Es war ein erfülltes Leben mit alltäglichen Höhen und Tiefen, das Nataliia zusammen mit ihrer Familie führte. Arbeit, Schule, Strandurlaube und regelmäßige Besuche bei den Großeltern prägten ihre Routine in der kleinen Stadt im Verwaltungsbezirk Saporishshja, im Süden der Ukraine. „Wir genossen unser Leben. Es war schließlich unsere Heimat, in der wir uns wohl und sicher fühlten“, erinnert sich die zweifache Mutter.
Obwohl bei ihrer Tochter Alesia bereits mit zwei Jahren Autismus diagnostiziert wurde, hatte die Familie ein glückliches Leben. „Die einzige Herausforderung war, dass wir für Alesias regelmäßige Behandlung in eine Privatklinik nach Kyjiw reisen mussten. Denn in unserer Kleinstadt konnte man ihr nicht helfen“, erzählt Nataliia. Doch als der Krieg in der Ukraine eskalierte, veränderte sich Nataliias Leben für immer.
Sie war gezwungen, ihre vertraute Umgebung hinter sich zu lassen und machte sich, nur mit den nötigsten Habseligkeiten bepackt, auf den Weg. „Der Krieg hat uns schon in den ersten Tagen erreicht. Als mein Mann, die Kinder und ich mit dem Auto wegfahren wollten, hörten wir in der Stadt schon Explosionen“, berichtet sie. Zunächst floh die Familie zu den Großeltern aufs Land. Aber auch dort marschierten die russischen Truppen bald darauf ein.
„Nach 18 Uhr war jede sichtbare Aktivität verboten. Nicht einmal Licht konnten wir anmachen, aus Angst für die russischen Truppen zur Zielscheibe zu werden.“
Alesia und ihren Bruder konnte Nataliia zu diesem Zeitpunkt bereits seit Monaten nicht mehr zur Schule schicken, da es zu unsicher draußen war. Sogar nur kurz frische Luft zu schnappen, war kaum möglich. Ständig wurde geschossen. Es gab Fälle von Vergewaltigung und Mord. „Wir schliefen immer voll bekleidet. Jede sichtbare Aktivität nach 18 Uhr war verboten, wir durften nicht einmal das Licht anmachen“, sagt die Mutter bedrückt. „Die Kinder verstanden den Grund dafür nicht. Aber wenn die russischen Truppen ein Licht im Fenster sahen, war das wie eine Zielscheibe.“
Der Krieg in der Ukraine hat die schwächsten Bevölkerungsgruppen unverhältnismäßig stark getroffen: Frauen und Mädchen sind einem erhöhten Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt und werden am Zugang zu Bildung und Beschäftigung gehindert. Zudem tragen Frauen in den vertriebenen Haushalten die Hauptrolle bei der Gewährleistung der Sicherheit und des Wohlergehens ihrer Kinder und anderer abhängiger Personen. Die Männer kämpfen oft entweder an der Front oder wurden bereits getötet.
Deshalb fokussiert sich Plan International im Jahr 2025 bei der Arbeit in Osteuropa auf geschlechtsspezifische Hilfe, psychosoziale Unterstützung sowie die Wiederherstellung des Zugangs zu Bildung und Schutzdiensten. Damit will die Kinderrechtsorganisation integrative humanitäre Maßnahmen stärken und sicherstellen, dass Frauen, Mädchen und Jugendliche im Mittelpunkt der Wiederaufbaubemühungen stehen.
„Am Anfang schliefen wir auf unseren Jacken, weil wir keine Laken oder Kissen hatten.“
Nataliia war schnell klar, dass sie ihre Kinder aus dieser gefährlichen Situation in der Ukraine herausholen musste, auch wenn das bedeutete, die Flucht ohne ihren Mann anzutreten. Ihr Vater und ihre Schwester lebten zu diesem Zeitpunkt bereits in Polen. Also entschloss sich Nataliia schweren Herzens, zusammen mit ihrer Mutter und den Kindern die Ukraine zu verlassen. „Unsere Reise nach Krakau dauerte mehrere Tage. Die Kinder waren sehr müde und weinten viel“, blickt sie zurück.
In Polen angekommen, waren die Herausforderungen immens. „Als alleinstehende, geflüchtete Mutter war es sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Aber wegen der besonderen Bedürfnisse meiner Tochter konnten wir auch nicht lange in den überfüllten Notunterkünften bleiben“, schildert Nataliia. Dadurch, dass sie nicht arbeiten konnte und kaum noch Geld hatte, war sie auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Als sie dann durch Zufall endlich eine Wohnung gefunden hatte, war diese in einem desolaten Zustand. Es fehlte an allem. Lediglich ein Bett, ein Tisch und Stühle waren vorhanden. „Man merkte, dass in dieser Wohnung schon lange niemand mehr gewohnt hatte“, so Nataliia. „Am Anfang schliefen wir auf unseren Jacken, weil wir keine Laken oder Kissen hatten. Auch Löffel und Tassen hatten wir nicht. Eine Nachbarin, die ebenfalls Ukrainerin mit zwei Kindern war, hat uns dann freundlicherweise viele der grundlegenden Dinge gegeben, die wir für die Küche brauchten.“
Trotz dieser Schwierigkeiten suchte Nataliia proaktiv nach Lösungen und Organisationen, die sie unterstützen und ihren Kindern ein besseres Leben in Polen ermöglichen. So wurde sie über die sozialen Medien auf den Verein Patchwork aufmerksam. Die Partnerorganisation von Plan International bietet geflüchteten Familien mit Kindern, die eine Behinderung oder besondere Bildungsbedürfnisse haben, wichtige Unterstützung. Dank der Hilfe von Patchwork besucht Tochter Alesia nun eine Sonderschule in Krakau, in der ihre schulischen Bedürfnisse mit Sorgfalt und Verständnis behandelt werden.
„Patchwork versorgte uns mit Informationen, die wir zur Unterstützung von Alesia benötigten. Sie halfen uns auch, Alesias Behindertenstatus nach polnischem Recht zu bestätigen und sie in der Schule anzumelden, indem sie uns eine Familienhelferin zur Seite stellten“, freut sich Nataliia. „Jetzt wissen wir, wohin wir uns wenden können, und haben gelernt, wie die Dinge hier in Polen funktionieren. Das macht die Lage weniger beängstigend.“
Die Unterstützung von Patchwork ist ein ganzheitlicher Ansatz, der auf die sozialen, emotionalen und praktischen Bedürfnisse von Geflüchteten eingeht. Für Alesia hat Patchwork nicht nur den Zugang zu einer Spezialschule ermöglicht, sondern auch dazu beigetragen, einen Psychologen und einen Sprachtherapeuten zu finden, um ihre Entwicklung weiter zu fördern. Darüber hinaus leistet der Verein auch psychosoziale Unterstützung für Nataliia und hilft ihr, die Herausforderungen als alleinerziehende Mutter mit Fluchterfahrung zu bewältigen und ihr Selbstvertrauen zurückzugewinnen.
„Bei Patchwork laden wir unsere Mitarbeitenden sowie Menschen mit Behinderungen ein, sich an unserer strategischen Planung zu beteiligen. So sehen und verstehen wir auch ihre Perspektive“, erklärt Maria Buchanowska, Geschäftsführerin von Patchwork. Sie sagt, dass Familien wie die von Nataliia im polnischen Bildungssystem vor vielen Herausforderungen stehen, da die Aufnahmekapazitäten der Fachschulen in der Regel nicht ausreichen würden, um den Bedarf der rund 800.000 Einwohner:innen Krakaus zu decken. Die Warteleisten seien lang und die Eltern könnten ihre Kinder nicht einfach anmelden.
Mit der Hilfe von Patchwork sind die Eltern nicht mehr auf sich allein gestellt. Zum Beispiel, wenn sie ein staatliches Zertifikat beantragen, das die Behinderung ihres Kindes bestätigt. Diese Bescheinigung ist unerlässlich, damit die Jungen und Mädchen Zugang zu Schulen oder Kindergärten erhalten, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.
„Es bedarf einer landesweiten Anstrengung, um Änderungen im polnischen Bildungssystem herbeizuführen. Wir müssen die Schulen dazu ermutigen, Kinder stärker einzubeziehen“, fordert Maria. Um diese Herausforderungen anzugehen, organisierte Patchwork in Zusammenarbeit mit Plan International in Krakau einen Runden Tisch. Die Veranstaltung brachte wichtige Interessenvertreter:innen zusammen, darunter solche aus lokalen Fachschulen, städtischen Behörden, lokalen und internationalen Organisationen sowie betroffene Mütter. In einem konstruktiven Dialog diskutierten sie darüber, wie man das System für alle Kinder verbessern kann.
„Wir alle brauchen Frieden, ein Dach über dem Kopf und Sicherheit für unsere Kinder.“
Trotz der schwierigen Erfahrungen, die Alesia gemacht hat – die Flucht aus der Ukraine, die Strapazen der Vertreibung und die Anpassung an ein neues Land – hat sie eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit bewiesen. Zwar fehlt ihr das geliebte Meer und die Gartenarbeit im Haus ihrer Großmutter, aber sie findet dennoch Freude an den kleinen Dingen. Das hat sie vor allem ihrer Mutter Nataliia zu verdanken, die sich unbeirrt für Alesias Wohlergehen einsetzt.
Da der Krieg in der Ukraine weiterhin kein Ende zu nehmen scheint, ist Nataliia mit der harten Realität konfrontiert, dass sie nicht weiß, ob sie jemals sicher in ihre Heimat zurückkehren kann. „Im Moment habe ich keine klare Vision für meine Zukunft oder die meiner Familie“, gibt sie schweren Herzens zu. „Ich kann nicht arbeiten, weil ich mich um meine Tochter kümmern muss. Es besteht die Gefahr, dass wir das staatliche Kindergeld verlieren. Außerdem verlängert der polnische Staat den befristeten Aufenthalt für Geflüchtete aus der Ukraine nur für kurze Zeit, und wir wissen nicht, ob er beim nächsten Mal verlängert wird.“
Doch bei all diesen Unwägbarkeiten hat Nataliia zumindest die Unterstützung, die sie braucht, wenn es um schwierige Fragen wie Unterkunft oder ihre eigene Gesundheit geht. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nicht mehr weitermachen kann. Mein Vermieter hat mir die Wohnung gekündigt und ich habe ernsthafte gesundheitliche Probleme, weshalb ich regemäßig zur Kontrolle muss. Aber dann denke ich daran, dass sich niemand außer mir um meine Kinder kümmern wird.“
Das unzerstörbare Band zwischen Mutter und Tochter gibt ihr die Kraft, weiterzumachen. Diese Entschlossenheit ist deutlich in ihren Worten spürbar: „Was wir alle brauchen, ist Frieden, ein Dach über dem Kopf und Sicherheit für unsere Kinder. Und für meine Kinder werde ich stark bleiben. Ich habe keine andere Wahl.“
Die Erfahrungen von Nataliia wurden mit Material aus dem polnischen Plan-Büro aufgeschrieben. Halyna hat ähnliches erlebt. Ihre Geschichte erzählen wir in einem separaten Artikel.