Als Oksana Krasitska im Frühjahr 2022 bei Wohnungsbesichtigungen in Hamburg auf viele weitere Interessierte traf, verlor die 31-jährige Ukrainerin beinahe den Mut. „Ich war überrascht, dass sich so viele Menschen gleichzeitig bewerben. In Kiew bekommt der erste, der eine Wohnung haben möchte, den Zuschlag.“ Wie sollte ausgerechnet sie einen Mietvertrag bekommen? Erst wenige Monate zuvor war sie nach Deutschland gekommen. Geflüchtet vor dem Krieg im eigenen Land. Doch dann lernte sie über ein Hilfsportal im Internet eine Vermieterin kennen, die Oksana Krastska genau aus diesem Grund als Mieterin haben wollte. Es war ein Akt der Solidarität und des Mitgefühls. Und als die Kiewerin ihr erzählte, dass sie seit kurzem für Plan International Deutschland arbeitete, schloss sich der Kreis. Es stellte sich heraus, dass die Vermieterin jeden Monat für die Kinderrechtsorganisation spendete. „Wir haben uns gegenseitig gesucht und gefunden“, sagt Oksana Krasitska.
Dies könnte das glückliche Ende einer dramatischen Geschichte sein. Aber wie die Dinge stehen, spielt diese Episode am Anfang einer der größten europäischen Tragödien nach dem Zweiten Weltkrieg: dem Überfall Russlands auf das Nachbarland Ukraine. Oksana Krasitska bangt jeden Tag um ihre Eltern, ihre Schwester, deren Mann und die beiden Nichten. Ein Cousin kämpft an der Front. Frieden ist auch ein Jahr nach Beginn des Krieges, als das Gespräch mit ihr stattfindet, nicht absehbar. Täglich sterben Menschen, die Angriffe auf das Land sind Akte des Terrors. Noch nie zuvor gab es eine Vertreibungskrise dieses Ausmaßes: Nach UN-Angaben sind rund acht Millionen Menschen ins europäische Ausland geflüchtet, weitere sechs Millionen innerhalb ihres Landes. Allein in Deutschland sind mehr als eine Million Geflüchtete registriert.
Oksana Krasitska erzählt, wie es bereits im November vor der russischen Invasion Gerüchte über einen Angriff gegeben habe. Anfang Februar hätten sich bereits viele Menschen auf den Weg ins Ausland begeben, um dort abzuwarten, was passieren würde. Sie selbst sei zurück zu ihren Eltern in ein kleines Dorf im Westen ihres Landes gezogen. „Komm zu uns. Verlass die Stadt“, hatten sie ihr gesagt. Es gab die Angst, dass Oksana Krasitska bei einer Invasion durch russische Truppen möglicherweise in besonderer Weise gefährdet sei. Denn die 31-Jährige hatte nach dem Studium der Internationalen Beziehungen im Rahmen von internationalen Projekten an der Entwicklung und Umsetzung von Reformen sowie an der Demokratisierung in der Ukraine mitgearbeitet. Wenn es aber im Februar keinen Angriff geben würde, so der damalige Plan, dann sollte es zurück nach Kiew gehen.
Dann kam der 24. Februar: Oksana Krasitska wollte am frühen Morgen mit ihrem belgischen Schäferhund-Mischling „Kari“ spazieren gehen, als eine Nachbarin ihr sagte: „Was machst Du hier draußen? Der Krieg hat begonnen!“
„Ich habe die Ukraine in einem schlechten Zustand zurückgelassen. Dass ich für mein Land arbeiten kann, erleichtert mich in gewisser Weise.“
Der Blick in die Nachrichten war ein Schock. „Sie sind überall.“ Einen Tag später der Entschluss: „Ich verlasse das Land.“ Aus Angst, die Grenzen würden geschlossen. „Ich war der Überzeugung, ich kann aus dem Exil besser helfen als im besetzten Land“, sagt Oksana Krasitska. Drei Tage danach, an ihrem 31. Geburtstag, saß sie im Bus Richtung Polen. Mit dabei Frauen, Kinder, Babys. Tagelanges Warten an den völlig überfüllten Grenzübergängen. Anschließend nimmt eine Gastfamilie in Warschau sie auf. „Doch ich wollte nicht nur unterkommen, in einer Stadt die voll mit so vielen Landsleuten war, sondern unabhängig sein. Ich habe schließlich eine gute Ausbildung und einen guten Lebenslauf.“
Anfang März reist sie weiter nach Berlin, bewirbt sich von dort aus bei Plan International. Controllerinnen mit ihrer Erfahrung werden händeringend gesucht. Schon am nächsten Tag bekommt sie eine Einladung für ein Vorstellungsgespräch. Und noch bevor sie den Vertrag in Händen hält, zieht nach Hamburg. Das Leben selbst bestimmen und nicht auf der Flucht sein.
Heute ist sie im Rahmen der Ukrainehilfe von Plan International Deutschland dafür zuständig, dass die Spenden ordnungsgemäß abgerechnet werden. „Ich habe die Ukraine in einem schlechten Zustand zurückgelassen. Dass ich für mein Land arbeiten kann, erleichtert mich in gewisser Weise. Manchmal fühle ich deshalb so etwas wie Schuld.“
Darüber hinaus engagiert Oksana Krasitska sich auch privat, unterstützt nicht nur ihre Eltern, sondern auch verschiedene Organisationen in der Ukraine. „So bleibe ich mit meinem Land in Verbindung, das hilft mir für meinen inneren Frieden“, sagt sie. Eines sei ihr sehr wichtig, wenn sie an ihre Heimat denke: „Ich möchte einen Ort haben, an den ich zurückkehren kann.“