„Ich hatte zwei Taschen, hauptsächlich mit den Sachen meiner Tochter. Erst dachte ich, wir wären nur für zwei Wochen weg und mein Leben würde sich bald wieder normalisieren. Aber dann änderte sich alles“, erinnert sich Halyna. Zusammen mit ihrer heute neunjährigen Tochter Zlata floh sie aus ihrer ukrainischen Heimat nach Opole, im Südwesten Polens. Das war vor drei Jahren. Ihre Mutter und einige andere Verwandte musste sie zurücklassen. Zwei ihrer Brüder kämpfen noch immer an der Front gegen die russischen Truppen.
Im polnischen Exil war das Leben für Halyna zunächst unberechenbar. „Ich verfolgte ständig die Nachrichten auf meinem Handy und die Warnungen vor Raketenangriffen. Am Ende des zweiten Monats wurde mir klar, dass wir so nicht weitermachen konnten“, schildert sie. „Also begann ich mein Leben von vorne. Mir war klar, dass ich alles tun musste, um meiner Tochter Sicherheit und seelischen Frieden zu geben.“
Halyna nahm sich zunächst vor, die polnische Sprache zu lernen. Unterstützung dafür fand sie in einem Integrationszentrum der Stiftung HumanDoc, einer Partnerorganisation von Plan International in Polen, die geflüchteten Menschen aus der Ukraine den dringend benötigten Zugang zu Informationen über Schule, Arbeit, Gesundheitsfürsorge und Wohnraum verschafft. So hilft die Stiftung geflüchteten Familien – vor allem Müttern und Kindern – beim Aufbau ihres neuen Lebens in Polen.
Nach einer Weile fand Halyna sogar eine Arbeit bei HumanDoc und fing im Integrationszentrum als Erzieherin an. Auch ihre Tochter Zlata nahm begeistert an den dortigen Aktivitäten teil. „Ich lebe sehr gerne in Polen“, sagt das Mädchen mit schüchternem Lächeln. „Aber ich vermisse meine Familie und meine Freundinnen und Freunde. Hier darf ich in der Schule auch nicht ukrainisch sprechen. Das ist für mich eine der größten Umstellungen.“ Zu ihrem großen Bedauern musste die Neunjährige auch ihre Haustiere in der Ukraine zurücklassen. Doch das ändert nichts an ihren Zukunftsplänen: „Wenn ich groß bin, möchte ich Tierärztin werden“, verkündet sie stolz.
Für Mütter wie Halyna hat der Krieg schwerwiegende geschlechtsspezifische Auswirkungen, da sie die Einheit und Stabilität ihrer Familien aufrechterhalten müssen. Ihre Unverwüstlichkeit und Stärke werden oft übersehen. Dabei tragen sie gleich doppelte Last: Sie müssen nicht nur ihr eigenes Überleben, sondern auch das ihrer Kinder sichern. Aufgrund dieser einnehmenden Aufgabe finden sie oft nur schwer Arbeit und sind daher von einem erhöhten Armutsrisiko betroffen.
Geschlechtsspezifische Gewalt, mangelnder Zugang zu Bildung und die emotionale Belastung sind weitere Hürden, mit denen besonders Frauen und Mädchen in Krisenzeiten zu kämpfen haben. Und auch wenn die Nachfrage nach psychosozialer Unterstützung gestiegen ist, wissen viele Vertriebene nicht, dass es solche Dienste gibt oder an wen sie sich dafür wenden müssten.
„Durch den Frauenclub bin ich offener für die Veränderungen in meinem Leben geworden. Das hat mich stärker gemacht.“
Die Hilfe von HumanDoc war für Halyna und ihre Tochter wie ein sicherer Hafen inmitten einer schutzlosen Welt. Vor allem die Kunsttherapiekurse hatten eine sehr positive Wirkung auf die kleine Zlata. „Durch die Kurse hat sie gelernt, ihre Gefühle auszudrücken, auch wenn sie noch nicht alle Worte gefunden hat“, erzählt Halyna. Über den Krieg spricht sie mit ihrer Tochter nur sehr bedacht. Aber das Kind spürt die Unsicherheit und Sorgen der Mutter, auch wenn sie sie versucht zu verbergen. „Sie vermisst ihr Leben, und es reicht nicht aus, mit ihr darüber zu sprechen, um die Leere zu füllen“, weiß die Mutter.
So wie Halyna kommen auch viele andere Mütter allein mit ihren Kindern nach Polen. Einen Job oder Sprachkurs zu besuchen, wenn niemand da ist, der auf die Mädchen und Jungen aufpassen kann, ist nahezu unmöglich. HumanDoc reagiert auf dieses Bedürfnis, indem die Stiftung parallel zu den Sprachkursen eine Kinderbetreuung anbietet. So können die Mütter nebenbei die polnische Sprache lernen.
Im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von HumanDoc und Plan International werden zudem Frauenclubs abgehalten, deren Schwerpunkt auf der Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt liegt. Der Club dient den Frauen mit Fluchterfahrung gleichzeitig als Ort, an dem sie wichtige Informationen über den Aufbau ihres Lebens in Polen erhalten und sich austauschen können.
„Durch den Frauenclub bin ich stärker und offener für die Veränderungen in meinem Leben geworden“, stellt Halyna fest. „Ich wusste schon vorher, dass ich eine starke Persönlichkeit bin. Aber jetzt, wo ich meinen Schutzraum verloren habe und wieder von vorne anfangen musste, habe ich gemerkt, dass ich noch viel mehr schaffen kann.“
Im November 2024 musste das Integrationszentrum von HumanDoc in Opole schließen, nachdem die Projektfinanzierung ausgelaufen war. Eine andere Arbeitsstelle hat Halyna bereits, sie unterrichtet jetzt in einer polnischen Schule. Dort nutzt sie ihr neu gewonnenes Selbstvertrauen. Das Zentrum vermisst sie trotzdem, da es für sie ein Stück Ukraine in Polen war, wie sie sagt.
Als Lehrerin weiß die 36-jährige Mutter, wie schwer die Kinder es in den letzten Jahren hatten. „Die junge Generation in der Ukraine steht in Sachen Bildung bereits länger vor Herausforderungen“, gibt sie zu bedenken. „Erst die Corona-Pandemie, dann der Krieg.“ Durch COVID-19 sind viele Kinder bereits seit 2020 auf Online-Unterricht angewiesen, was jedoch nicht immer eine qualitativ hochwertige Bildung gewährleistete. Dann marschierten die russischen Truppen in das Land ein und die Schule fiel zeitweise ganz aus. Diejenigen, die das Land verlassen haben, müssen sich nun in einem fremden Schulsystem zurechtfinden.
Halyna betont, dass Lehrer:innen und Erzieher:innen ihren pädagogischen Ansatz dementsprechend anpassen müssten. „In meiner Arbeit versuche ich, mein Kollegium zu ermutigen, die Bildungsverluste der Kinder zu berücksichtigen“, sagt sie. Vor allem für Teenager sei die Situation herausfordernd, da sie oft rebellierten und sich wenig für die Schule interessierten. Die Gruppenkurse von HumanDoc gaben ihnen jedoch die Möglichkeit zusammenzukommen und ihre Schwierigkeiten zu bewältigen.
„Schulen und Eltern können oft nicht alles abdecken. Deshalb sind Orte wie das Integrationszentrum so wichtig.“
Drei Jahre nach Eskalation des Krieges haben sich die Bedürfnisse der Menschen mit Fluchterfahrung verändert. Viele haben zwar Arbeit gefunden, diese ist aber nur befristet, weil ihr rechtlicher Status weiter unsicher bleibt. Sie können nie wissen, ob ihr Aufenthalt verlängert wird und sie weitere sechs Monate in Polen bleiben können.
Trotz dieser ständigen Unsicherheit hat sich bei vielen Geflüchteten inzwischen so etwas wie Alltag in der Fremde eingestellt. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Hilfsmaßnahmen, die vor Ort benötigt werden. „Schulen und Eltern können oft nicht alles abdecken. Deshalb sind Orte wie das HumanDoc-Integrationszentrum und ihre Bildungsaktivitäten, die über den formalen Unterricht hinausgehen, so wichtig“, betont Halyna.
Auch wenn Hilfsorganisationen den Geflüchteten wertvolle Unterstützung in der Not bieten, bleiben Angst und Sorge ihre ständigen Wegbegleiter. „Ganz gleich, wie sehr wir versuchen, ein normales Leben zu führen, wir tun immer nur so als ob“, fasst die Mutter zusammen. „Wenn ich einen Anruf von zu Hause bekomme, habe ich große Angst, dass etwas mit meinen beiden Brüdern passiert ist. Ich weiß, wie schwierig ihr Leben ist, und wir wissen nicht, was der morgige Tag bringen wird. Wir wissen nicht einmal, ob wir jemals nach Hause zurückkehren können.“
Die Erfahrungen von Halyna wurden mit Material aus dem polnischen Plan-Büro aufgeschrieben. Nataliia hat ähnliches erlebt. Ihre Geschichte erzählen wir in einem separaten Artikel.