Von der Kinderbraut zur Mädchenrechtsaktivistin

Foto: Mikko Toivonen

Octavia Leonardo hat häusliche Gewalt, eine Kinderheirat und eine Teenagerschwangerschaft überlebt. Heute, mit 41 Jahren, unterstützt sie mit Plan International Mädchen, ihre Träume zu verwirklichen. Dies ist ihre Geschichte.

Als junges Mädchen hofft Octavia eines Tages Ärztin zu werden, um Leben zu retten. Während der Schulzeit lebt sie bei ihren Großeltern im Süden Mosambiks, denn bei ihren Eltern in der Heimatstadt gibt es keine freien Schulplätze. Sie ist gut in der Schule, ihre Lieblingsfächer sind Mathematik, Physik und Chemie. Doch es kommt anders: Octavia wird keine Ärztin, sondern muss mit 15 die Schule abbrechen. 

Auf einem Schulausflug lernt Octavia einen vier Jahre älteren Jungen kennen, mit dem sie sich heimlich trifft. Dann beginnt sie sich zunehmend unwohl zu fühlen: Sie plagt über Übel- und Müdigkeit, ihr Bauch schwillt an. Ihre Großmutter geht von Malaria aus, doch schnell wird klar: Octavia ist schwanger. Sie steht unter Schock. Niemand hatte ihr erklärt, wie Kinder gezeugt werden oder wie man sich vor einer Schwangerschaft schützen kann.

Als Octavia ihren Großeltern gesteht, dass sie ein Kind erwartet, wird ihr Großvater wütend und fängt an, sie zu schlagen. Octavia flieht durch das Badezimmerfenster zu der Familie ihres Freundes. Doch hier findet sie keinen Schutz, sondern Missachtung. Sie wird als unehrenhaftes Mädchen stigmatisiert, und wie vielen schwangeren Teenagern in Mosambik steht der minderjährigen Octavia nun die Kinderehe bevor.

Drei Frauen sitzen draußen auf dem Boden und unterhalten sich
Offene Kommunikation: Als Jugendliche wusste Octavia kaum etwas über ihren Körper, Schwangerschaft und sexuelle Gesundheit – heute sieht das anders aus Mikko Toivonen

Auf Kinderheirat folgt Schulabbruch

Es ist eine traditionelle Ehe, die nicht offiziell bestätigt wird und unabhängig davon geschlossen wird, ob der Mann bereits eine Ehefrau hat oder nicht. Minderjährige und polygame Ehen werden in Mosambik oft nicht registriert; wie viele es gibt, ist schwer zu erfassen. 

Die 15-jährige Octavia wird mit der Ehe das rangniederste Mitglied ihrer neuen Großfamilie. Obwohl sie dünn und hochschwanger ist, muss sie schwerste Hausarbeit verrichten. Um 4 Uhr morgens wacht Octavia auf, bereitet Bad und Frühstück für die ganze Familie vor und bringt dann ihren Mann zur Schule. Sie selbst geht nicht mehr dorthin, denn – wie auch andere schwangere Mädchen – gilt sie als schlechtes Vorbild und wird vom Unterricht ausgeschlossen. Erst 2019 verabschiedet die Regierung Mosambiks ein Gesetz, das schwangeren Mädchen das Recht auf Bildung garantiert. Zuvor ergeht es vielen Schwangeren wie Octavia: Ihre Schwiegereltern wollen nicht, dass sie Zeit oder Geld in ihre Schulbildung investiert.

„Alles, was ich tat, war falsch.“

Octavia (41), war nach ihrer Kinderheirat das rangniederste Mitglied der Familie

„Meine Schwiegermutter beschimpfte mich jeden Tag und sagte mir, meine Mutter habe sich von mir befreit, aber jetzt würde ich ihr Tod sein. Alles, was ich tat, war falsch“, sagt Octavia. Nicht einmal nach der schmerzhaften Geburt ihres Sohns Gerson darf Octavia sich erholen, sondern muss stattdessen weiter im Haushalt arbeiten. Stillen hält ihre Schwiegermutter für Zeitverschwendung.

„Wenn ich eine Sache in meinem Leben ändern könnte, würde ich die frühe Kindheit meines Erstgeborenen mehr genießen. Ich hatte so viel Hausarbeit, dass ich mich nicht auf meinen Sohn konzentrieren konnte“, erinnert sich die Mosambikanerin. 

Im Jahr 2000, als Gerson zwei und Octavia 18 Jahre alt ist, beschließt die junge Mutter, dass sie es keinen weiteren Tag aushält. Sie flieht in ihre Heimatstadt zu ihrer verwitweten Mutter und ihrer Schwester und nimmt nur ihren Sohn mit sich. „Das Erste, was meine Mutter mich fragte, war, was ich jetzt vom Leben wollte. Ich sagte, ich wolle wieder zur Schule gehen.“ Octavia kehrt in die Schule zurück, besteht ihre Prüfungen trotz anfänglich schlechter Noten mit Bravour.

Frau mit buntem Rock mit verschränkten Armen in die Kamera lächelnd
Octavia hat viel durchgemacht, jetzt steht sie selbstbewusst für die Rechte von Mädchen und Frauen ein Mikko Toivonen

„Das Erste, was meine Mutter mich fragte, war, was ich jetzt vom Leben wollte.“

Octavia (41), konnte vor den erniedrigenden Verhältnissen in der neuen Familie fliehen
Frau schaut auf ihr Handy, neben ihr steht ein jugendliches Mädchen
Octavias (rechts) Telefon klingelt ständig. Zusätzlich zu ihrem Hauptberuf betreibt Octavia ihr eigenes Geschäft mit brasilianischen Jeans, südafrikanischen Kosmetikprodukten und Perücken Mikko Toivonen
Marktszene, Kleidungsstände und Besucher:innen
Schon früh morgens wimmelt es auf dem Markt von Menschen. Hier hat Octavia nach ihrer Rückkehr in die Heimat ihren Lebensunterhalt verdient Mikko Toivonen

Octavias Engagement rettet ihre Mutter

Danach weiß Octavia, dass sie die Welt zu einem besseren Ort zu machen will. Wenn nicht als Ärztin, dann eben anders. Also setzt sie sich zunächst ehrenamtlich, später dann beruflich, für mehr Bewusstsein für HIV/AIDS ein. 

2,4 Millionen Mosambikaner:innen sind HIV-positiv (Stand 2022). Gerade unter jungen Menschen nehmen die HIV-Infektionen zu. „Ich spreche mit jungen Menschen viel über Verhütung, dabei betone ich, wie wichtig Kondome sind, denn sie sind der einzige Schutz vor HIV. Die gute Nachricht ist, dass sich immer weniger HIV zu AIDS entwickelt. Wenn das Virus mit Medikamenten behandelt wird, können HIV-positive Menschen erfüllt leben.“

Gruppe Erwachsener sitzt draußen zusammen und redet
Gemeinsam mit anderen Plan-Mitarbeitenden und Freiwilligen diskutiert Octavia mögliche Anschaffungen für die Gemeinde Mikko Toivonen

Dank ihrer HIV-Aufklärungsarbeit erkennt Octavia schnell, weshalb ihre Mutter 2004 plötzlich an Gewicht verliert und ständig im Krankenhaus ist. Bei ihr wird eine HIV-Infektion mit schweren Komplikationen diagnostiziert. „Ich hatte Angst, meine Mutter zu verlieren. Sie war in den Vierzigern, aber dünn wie ein junges Mädchen. Wenn sie im Bett lag, konnte man sie unter der Decke kaum sehen. Jeden Morgen schaute ich nach, ob sie noch atmete,“ erinnert sich Octavia. 

Als Octavias Mutter mit der HIV-Behandlung beginnt, kann sie kaum noch laufen. Aber die Medikamente wirken. „Meine Mutter erholte sich und ist heute wieder bei guter Gesundheit. Manchmal vergessen wir sogar, dass sie HIV hat. Sie ist jetzt außerdem eine Aktivistin, die HIV-positive Menschen unterstützt. Ich bin stolz darauf, dass ich ihr damals helfen konnte.“

Seitdem ist viel Zeit vergangen, ihre Jugend mit traumatischen Erlebnissen, Armut und Krankheit liegen hinter Octavia. Was sich nicht verändert hat, ist ihr starker Wille, Menschen zu helfen. Ihr Engagement treibt sie heute mehr an denn je. „Ich bin zwar keine Ärztin geworden, aber jetzt rette ich Leben auf eine andere Weise“, erzählt Octavia.

„Ich bin zwar keine Ärztin geworden, aber jetzt rette ich Leben auf eine andere Weise.“

Octavia (41), ist mittlerweile Referentin für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte
Jugendliche Mädchen hören einer Frau mit Block und Stift zu
Im ländlichen Inhambane ist die Kinderheirat in der Regel auf eine ungeplante Teenagerschwangerschaft zurückzuführen. Hier will Octavia für mehr Sensibilisierung sorgen und neue Wege aufzeigen Mikko Toivonen

Die Kraft der eigenen Geschichte 

Regen prasselt auf den kupferfarbenen Boden und Blechdächer in Inhambane an der Küste von Zentralmosambik. Unter einem Vordach steht eine Gruppe Teenager und unterhält sich angeregt. Sie sind Aktivistinnen und nehmen heute an einer Schulung teil, die Octavia leitet. Die heute 41-Jährige ist mittlerweile Referentin für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte, seit 2010 arbeitet sie zu Geschlechtergleichstellung und Menschenrechten für Plan International. „Wovon träumt ihr? Wie wollt ihr euer Ziel erreichen?“, fragt sie die Mädchen. Eine unter ihnen möchte Herzchirurgin werden. „Sehr gut! Jetzt lasst uns über die Dinge nachdenken, die euch daran hindern könnten, euren Traum zu verwirklichen“, sagt Octavia. Die Mädchen machen eine Liste: Kinderheirat, frühe Mutterschaft, Drogenkonsum, Armut. All das sind Dinge, die einen Schulabbruch bedeuten würden.

Frau und Plan-Mitarbeiterin erklärt einer Jugendlichen etwas, die aufmerksam zuhört
Wenn Octavia mit jungen Menschen über ihre Rechte spricht, ermutigt sie sie, über ihre Träume nachzudenken. „Im Leben geht es darum, wer man sein will“ Mikko Toivonen

„Wovon träumt ihr? Wie wollt ihr euer Ziel erreichen?“

Octavia (41), will jungen Mädchen und Frauen helfen, ihre Träume zu verwirklichen

Mit ihrer Arbeit will Octavia die sexuelle und reproduktive Gesundheit von Mädchen und Frauen in Mosambik verbessern, dafür bildet sie Aktivist:innen, Erzieher:innen und Gemeindeleiter:innen auf diesem Gebiet aus und sensibilisiert sie für geschlechtsspezifische Ungleichheiten und Gefahren. Ihre eigene Geschichte hilft ihr dabei, das Vertrauen und Verständnis der Menschen zu gewinnen. Denn ihre eigenen Traumata sind Teil eines größeren Problems. Kinderheirat und frühe Schwangerschaften sind in den ländlichen Gebieten Mosambiks immer noch weit verbreitet und führen in der Regel dazu, dass Mädchen nicht zur Schule gehen können. Armut ist häufig die Folge.

Schritt für Schritt zum Mentalitätswandel 

Mosambikanische Mädchen werden traditionell dazu erzogen, dem Willen von Erwachsenen und Männern zu folgen. „Ich denke, das größte Problem ist die Mentalität, die schädliche kulturelle Normen aufrechterhält. Sexualität und Verhütung gelten als Tabu, und es herrscht eine Kultur des Schweigens zwischen Eltern und Kindern. Das ist es, was wir bei Plan angehen“, sagt Octavia. 

Octavia stößt anfangs oft auf Widerstand, wenn sie traditionelle Denkweisen in Frage stellt. Doch durch ihre Aufklärungs- und Sensibilierungsarbeit fangen ihre Kursteilnehmer:innen langsam an, die Folgen dieser Mentalität zu begreifen und ihre Einstellungen zu ändern. Seit sie bei Plan International angefangen hat, konnte Octavia viele positive Entwicklungen in Inhambane miterleben, auch wenn sich die Einstellungen zur Geschlechtergleichheit nur zögerlich ändern. „Es ist großartig zu sehen, wie viele Mädchen wissen, dass sie die Kontrolle über ihren eigenen Körper und ihr Leben übernehmen können. Frühverheiratungen sind in unserer Region zurückgegangen, weil immer mehr Menschen erkennen, dass sie damit keine Probleme lösen, sondern neue schaffen,“ erklärt Octavia.

Frau mit Sonnenbrille hält eine wiederverwendbare Menstruationsbinde hoch
Der Zugang zu sicheren Abtreibungen hat sich in den letzten Jahren in der Region verbessert, die Einstellung zu Schwangerschaftsabbrüchen wird immer freizügiger Mikko Toivonen
Frau und Planmitarbeiterin steht neben einem Mann, der an einer Nähmaschine draußen sitzt
Octavias Arbeit als Referentin für sexuelle und reproduktive Gesundheit reicht von Aufklärungsarbeit über das Bereitstellen von Hygieneprodukten bis hin zu aktiver Beratung junger Frauen Mikko Toivonen

Einer der wichtigsten Schritte ist die Eröffnung einer regionalen Schwangerschaftsklinik vor ein paar Jahren. Sie arbeitet eng mit Organisationen zusammen, die neben Beratungen auch kostenlose Verhütungsmittel und sichere Abtreibungen anbieten. „Bis vor fünf Jahren waren Schwangerschaftsabbrüche ein Tabu, aber viele Familien verstehen heute, dass sie eine bessere Option sein können als eine Kinderheirat.“

Frau rosafarbenem Oberteil mit verschränkten Armen in die Kamera lächelnd
Nicht nur ihr Leben hat sich um 180 Grad gedreht, auch in ihrer Region bewegt sich was: Die Wertschätzung für die Bildung von Mädchen hat zugenommen, und die häusliche Gewalt ist zurückgegangen Mikko Toivonen

Octavias ersehntes Familienglück

In der Nähe des Indischen Ozeans, an der Straße, die zur Landeshauptstadt Maputo führt, steht ein dreistöckiges, frisch gestrichenes Einfamilienhaus. Hier wohnt Octavia mit ihrer Familie. In der HIV-Organisation lernt Octavia Antonio Gova kennen, ihre Arbeitsbeziehung entwickelt sich zu einer Liebesbeziehung. Heute haben Octavia und Antonio drei gemeinsame Kinder. Gerson, Octavias Erstgeborener, ist mittlerweile 25 Jahre alt.   „Meine zweite Ehe ist in jeder Hinsicht anders als meine erste. Mein Mann und meine Kinder verstehen und unterstützen mich, auch wenn ich Fehler mache“, sagt Octavia. „Ich habe in Armut gelebt und für meine Grundrechte gekämpft. Manchmal kann ich mein Glück nicht fassen, wenn ich mein schönes Haus sehe. Ich bin wirklich stolz auf das, was ich erreicht habe.“

 

Dieser Artikel wurde mit Material aus dem Plan-Büro in Mosambik und Finnland erstellt.

Mädchen und junge Frauen unterstützen

Der Mädchen-Fonds von Plan International leistet einen wichtigen Beitrag zur Beseitigung von Benachteiligung, Armut und Gewalt. Mit Ihrer Spende können beispielsweise Projekte zum Schutz vor sexueller Gewalt und Ausbeutung, zur Einkommenssicherung sowie für gleichberechtigte, gesellschaftliche Teilhabe und Zugang zur Schulbildung umgesetzt werden. Damit Mädchen und junge Frauen die Chance haben auf ein selbstbestimmtes Leben erhalten.

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