Die Situation in Sudan ist verheerend: 25,6 Millionen Menschen sind von einer Hungerkrise betroffen. Das ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung – und die weltweit größte Hungersnot. Der sich zuspitzende Konflikt und der letztendliche Ausbruch des Krieges zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und den paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) haben das Land in eine humanitäre Krise gestürzt. Seit Beginn des Kriegs im April 2023 mussten mehr als zehn Millionen Menschen flüchten. Die große Mehrheit sucht innerhalb von Sudan Schutz: 7,7 Millionen Personen sind Binnenvertriebene.
Mit dem anhaltenden Krieg steigt nicht nur die Zahl der Vertriebenen, auch die zivilen Opfer und die Zerstörung nehmen zu; humanitäre Hilfe kann in weiten teilen des Sundan nicht mehr durchgeführt werden. Auch die Nachbarländer bleiben davon nicht unberührt, darunter Tschad, Südsudan, Ägypten und Libyen. Allein nach Südsudan sind über 700.000 Menschen geflüchtet, die Grenze zum Tschad haben seit April 2023 mehr als 600.000 überquert.
Unter ihnen sind Sarra, Kaoussar und Sarah. Die drei jungen Frauen sind in Geflüchtetencamps im benachbarten Tschad untergekommen. Hier erzählen sie, was sie erlebt haben.
Sarra hat einiges hinter sich. Aufgewachsen in Geneina im Westen Sudans, muss sie überstürzt ihr Zuhause verlassen, um vor bewaffneten Männern zu fliehen. Gemeinsam mit ihrer Großmutter, Mutter, mit ihren Schwestern und deren Kindern macht sie sich auf den Weg. Elf Monate sind sie auf der Flucht, kommen zunächst in Auffanglagern für Geflüchtete in Sudan unter. Dann versucht die Familie, die Grenze zum Tschad zu erreichen. „25 Tage lang waren wir zu Fuß unterwegs, mit vielen Zwischenstopps. Wir wurden mehrmals angegriffen, die wenigen Habseligkeiten, die wir mitgenommen hatten, wurden uns gestohlen“, erzählt die junge Frau.
„Es tut mir so weh, daran zu denken. Warum würden sie eine schwangere Frau töten?“
Die Gewalt, vor der sie fliehen, begleitet sie auch auf der Flucht, immer wieder gerät die Familie unter Beschuss. Bei einem der Angriffe wird Sarras schwangere Schwester getötet; Sarra lässt das traumatisiert zurück. „Es tut mir so weh, daran zu denken. Warum würden sie eine schwangere Frau töten, warum? Ich habe meine Schwester in ihrem eigenen Blut liegen sehen. Wäre doch nur ich stattdessen gestorben, dann wären meine Schwester und ihr Kind gerettet. Aber nein“, sagt die junge Sudanesin.
Endlich über der Grenze bringt man die Familie nach der Registrierung in das 50 Kilometer entfernt liegende Geflüchtetencamp Farchana. Nach Angaben der Nationalen Kommission für Geflüchtete im Tschad (CNARR) leben hier fast 8.000 Menschen, 88 Prozent davon sind Frauen und Kinder. Das Leben im Lager ist schwer, es fehlt an allem: sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen, Lebensmitteln und medizinischer Versorgung. Mehr als zwölf humanitäre Organisationen unterstützen in Farchana, aber der Bedarf ist nach wie vor hoch und die Bevölkerung wächst weiter. Die meisten Familien haben alles verloren und keine Möglichkeit, Geld zu verdienen.
„Ich wünschte, ich könnte arbeiten und etwas Geld verdienen, um meine Familie zu unterstützen“, erzählt Sarra, die jetzt mit den fünf Kindern ihrer Schwester zusammen im Lager lebt. „Es ist so schwierig, hier Essen zu finden. Die Kinder bekommen kaum eine Mahlzeit pro Tag.“ In ihrer Heimat war Sarra Krankenschwester, jetzt ist sie arbeitslos. Ab und zu bekommen sie finanzielle Unterstützung: 7.000 CFA-Franc (etwa 10 Euro) für jedes Familienmitglied. Sie legen das Geld zusammen, kaufen davon Lebensmittel. Doch das Geld ist schnell aufgebraucht – dann heißt es warten auf die nächste Geldverteilung.
„Wenn es keine Lebensmittel gibt und die Kinder hungern, geben wir ihnen Wasser – eine Tasse Wasser pro Person und Tag. Wenn das Wasser alle ist, muss man stundenlang anzustehen, um einen weiteren Eimer Wasser zu bekommen.“
Das Trauma der Flucht hat bei Sarra merkbar Spuren hinterlassen. Trotz der enormen Herausforderungen im Geflüchtetencamp, will sie nie wieder zurück in die Heimat. „Das Leben hier ist nicht einfach, aber ich würde lieber hier leiden, als in den Sudan zurückzukehren, selbst wenn der Krieg zu Ende ist.“
„Ich würde lieber hier leiden, als in den Sudan zurückzukehren.“
Auch Kaoussar erlebt schmerzhafte Verluste auf der Flucht vor dem Krieg. Wie Sarra, die aus der gleichen Heimatstadt stammt, sucht auch die 16-jährige Kaoussar zunächst in einem sudanesischen Auffanglager Schutz. Als dieses attackiert wird, flüchtet sie mit ihrer Familie weiter. „Wir sind weggerannt. Ich war mit meiner Großmutter, meinen Eltern, meiner Tante, meinen beiden Brüdern und vielen anderen Leuten unterwegs. Wir sind alle am selben Tag und zur selben Zeit aufgebrochen, aber nicht gemeinsam angekommen“, erzählt Kaoussar. Im Chaos der Flucht verliert Kaoussar den Überblick und drei ihrer Familienmitglieder. „Ich wusste nicht, wo wir hingingen, ich wusste nur, dass ich der Gruppe folgen musste. Dabei sind mein Vater und meine beiden Brüder verschwunden.“
Kaoussar muss weiterziehen, das nächste Geflüchtetencamp ist noch weit. Dabei erlebt sie mehrere Angriffe, einer tötet ihre Mutter. Völlig erschüttert weigert sich Kaoussar, ihre Mutter zu verlassen, sie weicht ihr nicht von der Seite. „Ich wollte bei ihr bleiben, aber meine Großmutter und meine Tante zerrten mich weg“, erzählt sie. Kurz danach folgt ein weiteres Trauma: Während der Flucht zu einem sichereren Ort setzen bei Kaoussars hochschwangeren Tante am Straßenrand die Wehen ein. „Nach stundenlangen, zehrenden Fußmärschen hat meine Tante ihr Kind im Gebüsch zur Welt gebracht. Meine Großmutter und ein paar andere Frauen halfen ihr dabei. Wir konnten immer noch Schüsse hören.“
Nach drei weiteren Tagen überquert Kaoussar mit denen, die von ihrer Familie übriggeblieben sind, die Grenze. Zunächst in einem Transitzentrum untergebracht, werden sie in das Geflüchtetencamp Ourang an der Grenze zwischen Tschad und Sudan verlegt. Hier beherbergt die provisorisch errichtete Unterkunft hauptsächlich Frauen und Kinder. Sauberes Wasser und Lebensmittel gibt es wenig, auch sanitäre Anlagen sind rar. Wer es hierhergeschafft hat, um vor Gewalt und Hunger in Sudan zu flüchten, kämpft auch hier täglich um das Nötigste.
„Nach stundenlangen Fußmärschen hat meine Tante ihr Kind im Gebüsch zur Welt gebracht.“
Vor allem Kinder und Jugendliche haben mit Traumata zu kämpfen. Für sie hat Plan International vor Ort gemeinsam mit der lokalen NGO L'Agence de Développement Économique et Social (ADES) eine Schule errichtet, in deren sechs Unterrichtsräumen sie neben lernen auch spielen und Freund:innen finden können. Vor allem das Unterrichten von Mädchen soll hier gefördert werden, denn ihnen wird aufgrund ihres Geschlechts nicht selten den Zugang zu Bildung verwehrt und stattdessen der Haushalt und Kinderbetreuung aufgetragen. Auch der soziale und psychische Aspekt dieser Klassenräume ist für viele geflüchtete Kinder und Jugendliche wichtig. So auch für Kaoussar: Hier trifft sie auf Gleichaltrige, mit denen sie sich anfreundet. Trotzdem denkt sie häufig an ihre Freund:innen aus der Heimat. „Früher hatte ich Freund:innen in Sudan, sehr gute sogar. Aber ich weiß nicht, wo sie jetzt sind. Der Krieg hat uns getrennt.“
Seit Februar 2024 kommt sie hierher, um sich von dem Schmerz, erst ihr Zuhause und dann einen Großteil ihrer Familie zu verlieren, zu erholen. „Ich komme gerne hierher, weil ich viel mit meinen Lehrer:innen und Mitschüler:innen unternehme. Das lenkt mich ab“, erzählt die 16-Jährige. „Jetzt, wo ich in diese Schule gehen kann, bin ich glücklicher. Es lässt mich all die schlimmen Dinge vergessen, die ich in meinem Land gesehen habe.“
„Ich weiß nicht, wo meine Freund:innen jetzt sind. Der Krieg hat uns getrennt.“
Obwohl sie sich inzwischen im provisorischen Camp eingelebt hat, denkt Kaoussar immer wieder an die Vergangenheit und fragt sich oft, wo der Rest ihrer Familie ist. „Manchmal weine ich, wenn ich an meine Familie, an meine Mutter denke. Ich möchte dort sein, wo sie sind“, sagt sie. Anders als Sarra will Kaoussar in den Sudan zurückkehren: „Ich wünschte, der Krieg in meinem Land würde aufhören, damit wir nach Hause gehen können.“
„Ich wünschte, der Krieg in meinem Land würde aufhören, damit wir nach Hause gehen können.“
„Ich hatte ein ganz normales Leben in Sudan.“ Jetzt ist die 32-jährige Sarah weit von Normalität entfernt. Was früher zu ihrem Alltag gehörte, fühlt sich sehr fern an. „Ich ging erst zur Schule, dann zur Universität“, erzählt sie. Neben ihrem Studium und später auch neben ihrer Arbeit unterrichtet Sarah ehrenamtlich Kinder in ihrer Gemeinde – insgesamt 18 Jahre lang. „Ich habe nie aufgehört, mich ehrenamtlich zu engagieren, auch nicht, als ich meinen Job hatte, aber plötzlich musste ich aufhören und wegen der Bombenanschläge und Morde aus meiner Heimatstadt flüchten.“
Im Juli 2023 erreicht Sarah das Geflüchtetenlager Ourang, das gleiche Camp, in dem auch Kaoussar jetzt lebt. Zu dem Zeitpunkt gibt es hier noch keinen Unterricht für geflüchtete Kinder. Als dann die Schule kurz vor der Eröffnung steht, bietet sich auch für Sarah eine Möglichkeit: Da sie schon Erfahrung im Unterrichten hat, bewirbt sie sich für eine der Stellen. „Im Januar 2024 gab es einen schriftlichen Test zur Einstellung einer Schulleitung. Ich war die Beste. Heute bin ich Schulleiterin“, sagt Sarah stolz.
Ihr Team von zwölf Lehrer:innen unterrichten die insgesamt 366 Kinder im Geflüchtetencamp. „Schulleiterin zu sein, ist keine leichte Aufgabe. Ich musste hart arbeiten, um die Kinder registrieren zu lassen. Wir sind von Tür zu Tür gelaufen, um die Familien zur Einschreibung ihrer Kinder zu motivieren“, erklärt Sarah.
Mit ihrem gut gefüllten Terminkalender ist Sarah jeden Morgen die Erste in der Schule, und nach dem Unterricht die Letzte, die geht. Das zeigt, wie ernst sie ihre Arbeit nimmt. Wie wichtig Bildung ist, weiß die studierte Beamtin genau. „Ich möchte den Kindern das geben, was ich selbst erhalten habe.“
Sie sieht Bildung als das notwendige Werkzeug für das Leben: Es geht darum, etwas über die Welt aber auch über sich selbst zu lernen, findet Sarah. Genauso lernt aber auch sie selbst von den Kindern – das motiviert sie in ihrem Alltag als Schulleiterin. „Ich mag diese Arbeit, weil ich Kinder liebe“, sagt sie. „Kinder lehren uns etwas über das Leben.“
Zwischen all den schwierigen Verhältnissen im Geflüchtetenlager, den unsicheren Zukunftsaussichten und Traumata, die die Kinder und Jugendlichen auf der Flucht erlebt haben, hofft Sarah mit dem Unterricht einen kleinen Lichtblick zu schaffen.
„Ich möchte den Kindern das geben, was ich selbst erhalten habe.“
Sarras, Kaoussars und Sarahs Geschichten wurden mit Plan-Material aus dem Tschad aufgeschrieben.