Warum sollte ein Mädchen studieren, wenn sie zu Hause bleiben muss, um zu putzen, zu kochen und sich um die Kinder zu kümmern? Dort, wo Erika aufwächst, ist diese Frage nicht ungewöhnlich. In der indigenen Kichwa-Gemeinde in Chimborazo studieren Mädchen normalerweise nicht. „Viele denken sogar, ein Mädchen zur Schule zu schicken wäre Geldverschwendung“, erklärt Erika. Doch sie hat Glück – und wächst mit Unterstützung und Ermutigung auf: Die 21-jährige Ecuadorianerin ist eine der ersten aus ihrer Gemeinde, die zur Universität gehen kann.
„Viele denken sogar, ein Mädchen zur Schule zu schicken wäre Geldverschwendung.“
Eine Farm im Zentrum des Landes, umgeben von der vielfältigen Flora und Fauna des Andengebirges. Hier verbringen Erika und ihre Geschwister ihre Kindheit. Auf dem Hof ihrer Eltern prägt der Rhythmus der Farmarbeit das tägliche Leben: Frühes Aufstehen, Kühe melken, Schafe und Ziegen füttern. „Ich bin auf dem Acker aufgewachsen und habe gern hart auf dem Land gearbeitet, denn das ist unsere Lebensgrundlage“, erzählt Erika.
Im Gegensatz zu manch anderen Kichwa-Familien in ihrem Dorf hat Bildung in ihrer Familie einen hohen Stellenwert – sowohl für Mädchen als auch für Jungen. „Mein Vater sagt mir und meinen drei Schwestern immer, dass wir die Chancen nutzen sollen, die er nicht hatte“, erinnert sich die Ecuadorianerin. Er selbst war eines von neun Kindern in der Familie, hier stand satt werden an erster Stelle. Trotz – oder gerade weil – er als Kind kaum Bildung genießen konnte, ermutigt er seine Kinder, in die Schule zu gehen, Bildung ernst zu nehmen und die Welt ein Stück besser zu machen. „Er sagt immer: Wissen lehrt uns, nicht unsensibel zu sein, es macht uns zu besseren Menschen, zu einer besseren Familie und zu einer besseren Gesellschaft“, sagt Erika über ihren Vater.
Ihre harte Arbeit in der Schule bringt ihr gute Noten ein, was sie stolz macht. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass Bildung der Weg in die Zukunft ist, denn sie war der Weg, an dem ich wachsen konnte.“
Als sie acht ist, kommt Erika mit Plan International in Kontakt und wird zunächst Patenkind einer deutschen Familie. Schon früh zeigt sie Engagement und kann sich als Jugendbotschafterin im Youth Ambassadors-Programm von Plan International weiterbilden. Im Rahmen dieses Programms reist Erika nach England und Kanada, plant Aktionen, diskutiert über die Bildung und ihre Probleme – und vernetzt sich mit anderen Jugendlichen. „Ich finde es faszinierend, Menschen zu treffen mit unterschiedlichen Anliegen, Visionen und Leidenschaften“, schwärmt Erika.
2015 reist sie dann in die USA, lernt, was es heißt, Projekte anzuleiten und gemeinsam mit anderen umzusetzen. Mit dem neugewonnenen Wissen über Führungsqualitäten entwirft Erika ein Programm zur Verhinderung von Teenagerschwangerschaften und plant Aktionen zum Thema Sexualität in ihrer Gemeinde.
Nach ihrem Schulabschluss kann Erika nun mit einem Stipendium von Plan International ein Architektur-Studium aufnehmen – etwas, das sie nie für möglich gehalten hätte. Sie verlässt ihren Heimatort in den Hochanden und tauscht ihn gegen ein Leben in der Stadt. Hier teilt sie sich gemeinsam mit ihrer Schwester ein Zimmer. Ihr neues Leben als Studentin hält allerdings auch Herausforderungen für sie bereit.
Ein großer Teil Erikas Leben ist die indigene Kultur ihrer Gemeinde. Kreativität, Handarbeit und Natur sind in die Traditionen der Kichwa eng miteinander verwoben. Auch Erika liebt es, zu malen, dafür verwendet sie Farben aus der Natur wie zum Beispiel von Löwenzahn- oder Malvenblüten. Sie stellt außerdem ihre eigene Kleidung her, bestickt Blusen mit Blumen und geometrischen Mustern. Inspiriert von der Landschaft der Hochanden wird ihre Kleidung in der Stadt allerdings argwöhnisch betrachtet.
Als Teil der Kichwa-Gemeinde gehört Erika an ihrer Universität einer Minderheit an. Sie erfährt Diskriminierung und Ablehnung aufgrund ihres Aussehens und ihrer ländlichen Herkunft: „In den ersten Tagen in der Universität wurde ich wegen meiner Kleidung, meiner Bluse, meines langen Rocks und meiner Espadrilles seltsam angeschaut. Manchmal war es unangenehm, zum Unterricht zu gehen.“
Doch dann stellt Erika fest, dass viele ihrer Kommilitoninnen auch Formen von Vorurteilen und Diskriminierung ausgesetzt sind. Es fehlt den jungen Frauen nicht nur an Selbstvertrauen, sondern auch an Räumen, in denen Frauen sich sicher fühlen. So beschließt Erika, sich an ihrer Universität für die Rechte und Bildung der Frauen zu engagieren. Dafür geht sie gegen die Macho-Kultur an und setzt sich gegen Missbrauch und Jugendschwangerschaften ein.
„In meiner Familie gab es keine Macho-Kultur.“
Bei dieser Arbeit, durch die sie ihre Mitstudierenden für diese Themen sensibilisieren möchte, helfen ihr die Fähigkeiten, die sie im Rahmen von Plan-Projekten erlernt hat. Aber auch ihr Vater und seine Werte bestärken sie darin. „In meiner Familie gab es keine Macho-Kultur. Mein Vater hat sich immer für das Lernen interessiert, auch außerhalb der Gemeinschaft“, erklärt sie.
Erikas Vater, der selbst mit häuslicher Gewalt aufgewachsen ist, hat sich immer geweigert, so wie sein Vater zu werden und konnte so den Kreislauf der Gewalt durchbrechen, anstatt sie an seine Kinder weiterzugeben. Zudem hat er einen Kurs von Plan International besucht, indem traditionelle Männlichkeitsbilder und -rollen thematisiert wurden.
Erika bleibt motiviert und engagiert, ihre Chance auf Bildung zu nutzen, um etwas zu verändern – so, wie ihr Vater es ihr beigebracht hat. „Wir müssen unsere Stimme erheben und alle zusammenarbeiten, damit andere Frauen uns hören und ihr Leben ändern können. Wenn wir einer Person helfen können, wird das vielen anderen helfen“, davon ist Erika überzeugt.
Erikas Geschichte wurde mit Material aus dem ecuadorianischen Plan-Büro erstellt.