Wie eine junge Frau durch Migration zu sich selbst fand

Foto: César Morejón

Wenddy verließ mit ihrer Familie Venezuela und ging nach Ecuador, dem Heimatland ihrer Eltern. Im Plan Post-Magazin erzählt sie, wie es dazu kam und wie es ihr heute geht.

Wenddy ist eine junge Frau aus Venezuela, die sich entschieden hat, ihr Land zu verlassen, um bessere Lebensbedingungen für sich und ihre Familie zu suchen. In Ecuador fand sie eine sichere Zuflucht und bekam eine Arbeit als Jugendbetreuerin bei Plan International. Diese Tätigkeit half ihr, sich einzuleben und Freund:innen zu finden. Dies ist ihre Geschichte:

Die Entscheidung zur Flucht: Von Venezuela nach Ecuador

Migration: ein Thema, das mein Leben geprägt hat. Ich komme aus Caracas, Venezuela und bin 2017 nach Ecuador ausgewandert. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Schritt mir helfen würde, mich selbst besser kennenzulernen und mein verborgenes Potenzial zu entfalten.

Eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren, steht mit verschränkten Armen an einen Baum gelehnt und lächelt
Wenddy sagt, dass die Migration nach Ecuador sie stärker gemacht hat César Morejón

Meine Eltern stammen aus Pueblo Nuevo, einer ländlichen Gegend von Portoviejo in der ecuadorianischen Provinz Manabí. Vor 26 Jahren, als sie 18 waren, verließen sie ihr Zuhause, um in Venezuela zu leben. Dort wurden meine Schwestern und ich geboren. Als wir 2017 nach Ecuador zurückkehrten, um dort zu leben, wollte ich zunächst nicht mitkommen.

Ich kannte die Gegend ein wenig, weil wir hier alle zwei Jahre im Urlaub waren. Doch als meine Eltern beschlossen zurückzukehren, fühlte ich mich unsicher und dachte unzählige Dinge durch. Ich studierte Jura im siebten Semester und wollte mein Studium nicht abbrechen. Anfangs schlug ich meinen Eltern daher vor, in Caracas zu bleiben, bis ich meinen Abschluss in der Tasche hatte.

Allerdings änderte ich meine Meinung, nachdem ein Freund von mir bei einer Demonstration durch eine Gasbombe ums Leben kam. In diesem Moment dachte ich bei mir: ‚Ich bin schon so weit gekommen. Hier zählt das Leben junger Menschen nichts. Ich muss weg.‘

Das Leben in Venezuela im Jahr 2017 war sehr schwierig. Obwohl meine Familie und ich genug zu essen hatten, waren wir ständig Gefahren und Unsicherheiten ausgesetzt. Wir lebten in einem hohen Wohnkomplex, der von der Regierung bereitgestellt wurde. Das Leben dort war gefährlich geworden. Wir hörten oft Schüsse und mussten einmal sogar an Leichen vorbeigehen. Meine Schwester, damals sechs Jahre alt, war sehr traumatisiert und versteckte sich unter dem Bett, wenn sie ein lautes Geräusch hörte.

Mädchen in der Venezuela-Krise

Seit neun Jahren steckt Venezuela, einst Vorzeigedemokratie und reicher Erdölstaat, in einer tiefen wirtschaftlichen, politischen und humanitären Krise. Seit Jahren fliehen Millionen Menschen, viele von ihnen nach Ecuador, Kolumbien oder Peru. Erfahren Sie mehr zur Situation speziell von Mädchen auf der Flucht in unserem „Girls in Crisis“-Report von 2021.

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Eine schmale Fußgängerbrücke führt durch grünen Wald, eine junge Frau läuft über die Brücke
Wenddy lebt jetzt mit ihren Eltern in Pueblo Nuevo César Morejón

Ankommen in der neuen Heimat

Als ich in Ecuador ankam, hatte ich einige Vorteile gegenüber anderen Venezolaner:innen, da ich die ecuadorianische Staatsbürgerschaft, ein Zuhause und meine Familie hatte. Aber ich war nicht daran gewöhnt, auf dem Land zu leben. Ich wollte gerne weiter studieren, aber in Pueblo Nuevo ist ländlich, hier gibt es kein Internet und auch keine Universitäten. Außerdem musste ich eine Aufnahmeprüfung bestehen, um weiter zu studieren. Allerdings kannte ich mich nicht gut genug mit der Geschichte Ecuadors aus und hatte nur wenig Ahnung von Mathematik.

Da ich nichts zu tun hatte, übernahm ich die Verantwortung für die Hausarbeit. Obwohl ich ein sehr aktives Leben führte, verbrachte ich nun die meiste Zeit zu Hause. Ich nutzte die Zeit, um mein Englisch zu verbessern, spielte im Orchester und arbeitete gelegentlich. In Pueblo Nuevo wurde ich vom lauten Krähen der Hähne und dem Gezwitscher der Vögel gestört, was mich vom Schlafen abhielt. Es war zu heiß und ich fragte mich, wo ich hier gelandet war. Schließlich erkrankte ich an einem Pleuraerguss, bei dem sich Flüssigkeit in der Lunge ansammelt, und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Ich fühlte mich sehr schlecht, aber erstaunlicherweise ging es dann bergauf.

Eine junge Frau mit langen dunklen Haaren sitzt an einem runden Tisch vor einem Laptop
Wenddy hat ihr Jurastudium online wieder aufgenommen César Morejón

Neue (berufliche) Perspektiven

Eine Lehrerin bat mich, sie in der Schule meiner Schwester für ein paar Stunden zu vertreten, damit sie zum Arzt gehen konnte. Obwohl ich mich davor scheute, in der Öffentlichkeit zu sprechen, sagte ich schließlich ja, da es nur um Kinder ging und nichts passieren konnte. Immer mehr Lehrer:innen baten mich nach und nach um Hilfe, da sie meine Arbeit schätzten.

Im Jahr 2018 bewarb ich mich an einem College und musste entscheiden, welche zwei Berufe ich studieren wollte. Die erste Option war das Jura-Studium, aber ich konnte nicht in die Stadt ziehen, da meine Eltern sich meinen Aufenthalt nicht leisten konnten. Daher wählte ich als zweite Option einen Bachelor-Abschluss im Bereich Fremdsprachenunterricht. Derzeit stehe ich kurz vor meinem Abschluss und habe vor einem Jahr damit begonnen, online Jura zu studieren.

„Aufgrund unserer Herkunft aus einem unverstandenen Land, aus dem mehr als fünf Millionen Menschen geflüchtet sind, wurden wir oft diskriminiert“

Wenddy, zog mit ihrer Familie nach Ecuador

Während ich mich in einer depressiven Phase befand, trat Plan International in mein Leben und half mir dabei, wieder auf die Beine zu kommen. Die Organisation führte einige Projekte in meiner Gemeinde durch und ich nahm an einigen davon teil. Ich war glücklich darüber, denn aufgrund unserer Herkunft aus einem unverstandenen Land, aus dem mehr als fünf Millionen Menschen geflüchtet sind, wurden wir oft diskriminiert. Plan International gab mir die Möglichkeit, Menschen kennenzulernen, die mich so akzeptierten, wie ich bin. Mir ist es gelungen, meine erste Freundesgruppe im Land zu finden. Als Teil eines Netzwerks von Community-Reporter:innen nahm ich an meinem ersten journalistischen Projekt teil. Dort habe ich gelernt, Videos aufzunehmen und zu bearbeiten, um Inhalte zu erstellen, vor der Kamera und im Radio zu sprechen. Währenddessen habe ich entdeckt, dass ich die Fähigkeit habe, vor Menschen aufzutreten und meine Botschaft selbstbewusst zu vermitteln.

Eines Tages lud mich ein Radiosender in Portoviejo ein, über die Aktivitäten junger Menschen aus dem ländlichen Raum zu sprechen. Der Journalist, der das Interview führte, war von meinem Talent so beeindruckt, dass er mir einen Teilzeitjob beim Radiosender anbot. Nachdem ich darüber nachgedacht hatte, nahm ich das Angebot an. 

Ich bin auch Teil einer Mädchen-Gruppe, die meine Denkweise komplett verändert hat. Ich habe gelernt, was Feminismus bedeutet, was Geschwisterlichkeit ist und dass Frauen für Gleichberechtigung kämpfen. Wir Frauen erleben immer noch Ungerechtigkeiten, nur weil wir Frauen sind.

Eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren sitzt auf dem Rasen und liest ein Buch
Wendy will als Lehrerin Fremdsprachen unterrichten César Morejón

An Herausforderungen wachsen

Anfang 2022 habe ich mich einem neuen Projekt von Plan International angeschlossen, das sich auf Bildung in Notfällen konzentriert. Das Programm wird von acht Ländern durchgeführt, wobei Ecuador das einzige Land in Nord- und Südamerika ist. Unser Ziel ist es, die Situation der Kinder in Ecuador hinsichtlich unsicherer Bildungsumgebungen zu untersuchen und Lösungen für diese Probleme vorzuschlagen. Das Projekt wird von 22 Vertreter:innen in den Provinzen unterstützt, in denen Plan International arbeitet.

Ende Juli reiste ich nach Paris, um an einer Jugendveranstaltung von der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) zum Thema Bildung in Notfällen teilzunehmen. Persönlich war es für mich eine große Herausforderung, da ich zum ersten Mal in meinem Leben auf Englisch sprechen musste. Auf beruflicher Ebene bin ich sehr stolz darauf, dass ich mich auf meine zukünftige Tätigkeit als Lehrerin vorbereite. Es erfüllt mich mit Stolz, dass ich vor einer Organisation wie der UNESCO über die Themen sprechen kann, die mir am Herzen liegen.

„Jetzt bin ich eine gestärkte Frau und setze mich für die Rechte von Kindern und Jugendlichen in ländlichen Gebieten ein“

Wenddy

Obwohl ich mein Heimatland immer noch vermisse, weiß ich, dass die Auswanderung nach Ecuador die beste Entscheidung war, die ich treffen konnte. Ich bin nicht mehr die schüchterne Wenddy, die sich schämte, nach dem Preis für ein Paar Schuhe zu fragen. Jetzt bin ich eine gestärkte Frau, die mit ihrer Gemeinschaft im Einklang steht, und setze mich für die Rechte von Kindern und Jugendlichen in ländlichen Gebieten ein. Denn es darf nicht sein, dass eine ländliche Gegend mit Ungerechtigkeit und Abgeschiedenheit gleichgesetzt wird. 

Nach fünf Jahren in Ecuador weiß ich, dass es ein Privileg ist, im Einklang mit der Natur zu leben. Ich bin unsicher, ob ich noch einmal in eine Großstadt ziehen würde. Mich stören Vögel oder krähende Hähne mittlerweile nicht mehr. Ich genieße die Ruhe, den Blick auf die Sterne und das Gefühl, nach Hause zu kommen und dem Chaos der Welt zu entfliehen.“

Mit einer Patenschaft helfen

In Ecuador setzen wir uns unter anderem dafür ein, dass sich die Lebensbedingungen für Kinder, Familien und Gemeinden in den ländlichen Gebieten langfristig verbessern und tragen zu einer beruflichen Perspektive in unseren Projektregionen bei. 

Mit der Übernahme einer Kinderpatenschaft helfen Sie nicht nur Ihrem Patenkind und seiner Familie, sondern auch dabei, unsere Programme vor Ort umzusetzen.

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