Schon als 12-Jährige träumte Shreya davon, als Reiseleiterin in ihrer Heimat zu arbeiten. Trekken, Wanderwege erkunden, den Himalaja bereisen und am Fuße des weltberühmten Gebirges Gästen behilflich sein – die Idee gefiel ihr.
Als jüngstes von drei Kindern erlebte die heute 21-jährige Nepalesin, wie ihre Eltern für das Wohl der Familie kämpften. Als Reinigungskräfte arbeiteten sie hart, verdienten aber nicht viel. Trotzdem reichte es immer dafür, dass alle satt wurden, versorgt waren und Medikamente bekamen.
„Wenn meine Freundinnen Süßigkeiten naschten und schöne Kleidung trugen, wollte ich das auch haben“, sagt Shreya. Aber da sie wusste, dass ihre Eltern sich das nicht leisten konnten, behielt sie ihre Wünsche für sich.
2015 bebte die Erde in Nepal heftig. Die Erschütterungen in dem südasiatischen Binnenland hatten eine Stärke von 7,8. Viel Infrastruktur ging in einem der ärmsten Länder der Welt verloren und auf Jahre blieben die Spuren der Verwüstung sichtbar.
„Meine Eltern haben mich motiviert und wertvoll behandelt.“
„Meine Eltern baten unsere Verwandten um Geld. Aber sie gaben nichts. Stattdessen haben sie sie schikaniert, weil sie uns trotz finanzieller Schwierigkeiten zur Schule schickten“, sagt Shreya. „Meine Eltern haben mich motiviert. Sie haben uns als wertvoll behandelt und gingen für uns Kinder nie Kompromisse ein.“
Nach ihrem Schulabschluss bewarb sich Shreya in Deutschland, um zu studieren. Aber ohne Deutschkenntnisse traute sie sich nicht zu, das Vorstellungsgespräch zu bestehen. Stattdessen suchte sie nach einer Möglichkeit, Reiseleiterin in Pokhara zu werden. Ihr Kindheitstraum rückte einen Schritt näher.
Shreya hörte von einem kostenlosen Ausbildungskurs, der von einem Trekking-Unternehmen in der Stadt in Zentral-Nepal angeboten wurde – am Fuße des Annapurna-Bergmassivs in der Provinz Gandaki. „Ich glaube, ich war dazu bestimmt, Fremdenführerin zu werden“, erinnert sie sich. „Vielleicht war das der Grund dafür, dass ich bei meiner Bewerbung für einen Auslandsaufenthalt nicht erfolgreich war.“
„Ich war dazu bestimmt, Fremdenführerin zu werden.“
Und tatsächlich war sie mit ihrer Bewerbung erfolgreich. Sie wurde ausgewählt und zum Trekking-Guide ausgebildet, erhielt Englischunterricht und erlernte relevante Lebens- und Überlebenskompetenzen. „Meine Eltern haben mich während der gesamten Ausbildungszeit unterstützt“, sagt Shreya.
Das herausfordernde Terrain bestehend aus Schluchten und Gipfel, das harsche Klima, die oft unbefestigten Wege – in diesem Umfeld waren und sind in Nepal meistens Männer als Trekkingführer tätig, weil Frauen sie angeblich nicht bewerkstelligen können. Plan International arbeitet mit der Partnerorganisation Right4Children in Pokhara zusammen und unterstützt ein Projekt zur Förderung von 800 jungen Frauen. Sie sollen Beschäftigung finden, auch und gerade in privatwirtschaftlichen Ausbildungseinrichtungen wie dem Trekking-Unternehmen „3 Sisters Adventure“, das Shreya ausgebildet hat.
Die Initiative sorgt dafür, dass junge Frauen berufliche Chancen etwa im Tourismus ergreifen können. So auch Shreya, die nach einem theoretischen Teil endlich loslaufen konnte, hinauf in die Berge. Zu ihrer Ausbildung gehörte zunächst eine Begleitung von Gruppen als Trägerin – etwa auf dem zehntägigen Annapurna-Base-Camp-Trail (ABC-Trail), der auf bis zu 4.130 Metern Höhe verläuft.
„Das war einer meiner glücklichsten Momente.“
„Als ich als Trägerin auf dem ABC-Trail arbeitete, waren zwei Gäste schneller. Ich eilte mit all ihren Habseligkeiten zum Zielpunkt, da ich nicht wollte, dass sie irgendwelche Probleme hatten. Sie bekamen ihr Gepäck noch vor Einbruch der Dunkelheit.“
Die Wanderer waren von Shreyas hilfsbereiter Art so beeindruckt, dass sie die junge Frau als Reiseführerin empfahlen. „Ich konnte es gar nicht glauben, als ,3 Sisters‘ mir mitteilte, dass ich befördert worden war. Das war einer meiner glücklichsten Momente.“ Als Wanderführerin bekamt Shreya eine Anstellung und hat bis heute zwei Trekking-Expeditionen selbst geleitet.
Unterwegs gelingt natürlich nicht alles. Einmal vergaß sie, die für sie vorgesehene Trekking-Route einzuhalten. „Aber das schlimmste sind die Blutegel“, sagt sie. „Ich habe Angst vor ihnen und während einer Wanderung waren sie plötzlich überall an meinem Fuß. Ich habe nicht geschrien – was würden wohl sonst meine Gäste denken. Um meine Angst zu verbergen, musste ich auch die Blutegel von ihren Füßen entfernen. Von diesem Moment an hatte ich aber das Gefühl, dass meine Arbeit, meine Verantwortung und meine innere Stärke mich reif genug gemacht hatten, um mit dieser Art von Problemen umzugehen.“
„Wenn man als Frau in der Trekking-Branche auftaucht, wird man mit negativen Kommentaren, Beschimpfungen und Belästigungen konfrontiert.“
Eine weitere Herausforderung seien die Schikanen von Männern, die sich über Shreya als weibliche Trekkingführerin lustig machen. „In der Trekking-Branche gibt es das Klischee, dass nur Männer in diesem Beruf tätig sind. Wenn man als Frau dort auftaucht, wird man mit negativen Kommentaren, Beschimpfungen und Belästigungen konfrontiert.“
„Am Anfang war das nicht einfach für mich“, ergänzt Shreya. „Aber während meiner Ausbildung habe ich etwas über geschlechtsspezifische Gewalt gelernt und wie wir mit solchen Situationen umgehen sollen. Schweigen, aus Angst, den Job oder den Ruf zu verlieren, hilft nicht, wenn man mit Gewalt konfrontiert wird. Man muss sich klar dagegen aussprechen“, sagt die Fremdenführerin. „Ich bin immer mit solchen Drohungen konfrontiert, sowohl von meinen männlichen Kollegen als auch von den Touristen, die zu den Expeditionen kommen. Das war ein Thema während meiner Ausbildung. Daher bin ich jetzt offen, solche Situationen anzusprechen und sie zu melden.“
Von ihrem ersten Lohn als Reiseleiterin schickte Shreya einen Teil an ihre Eltern, die ihr auf dem Weg zu ihrem Kindheitstraum niemals im Wege gestanden haben. Alles lief gut – bis mit der Corona-Pandemie 2020 neue Hürden kamen. Während der Lockdowns blieben auch in Nepal Hunderttausende Tourist:innen fern. Millionen Menschen in dem südasiatischen Binnenland, die von und mit dem Tourismus gelebt hatten, blieben ohne Einnahmen.
Rund zwei Jahre lang kam niemand aus dem Ausland in den Himalaja-Staat, weil es Lockdowns und kaum noch Auslandsflüge gab – Beschränkungen, die mittlerweile wieder aufgehoben worden sind. In der Zwischenzeit begannen immerhin einheimische Menschen, mehr von ihrem eigenen Land zu entdecken und dort zu reisen. „Ich habe die Hoffnung nicht verloren und wünsche mir, dass bald alles wieder normal sein wird“, sagt Shreya.
Marc Tornow hat Nepal seit 1994 mehrfach bereist, dort gearbeitet und Shreyas Geschichte mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.