Mit dem Hafen vor der Haustür ist Guayaquil ein bedeutendes Handelszentrum von Ecuador, das vielversprechende Chancen zu bieten scheint. Auf Sichtweite der schneebedeckten Anden finden sich zwischen Containerterminals und einem modernen Geschäftszentrum pittoreske Altstadtgassen.
In der Metropolregion ist allerdings auch die Bandenkriminalität verbreitet. Überfälle und gewaltsame Auseinandersetzungen sind an der Tagesordnung. Eine weitere Herausforderung insbesondere für Mädchen und junge Frauen stellt der Machismo dar, finden Betroffene aus Guayaquil. Darunter Andrea (18), die dort mit ihren Eltern und einer Tante zusammenlebt. Ihre vier älteren Brüder haben das Elternhaus längst verlassen.
„Meine Familie hat eine Kämpfernatur“, sagt Andrea stolz. „Vor allem meine Mutter hat mich immer ermutigt, an verschiedenen Aktivitäten teilzunehmen und dadurch neue Möglichkeiten für das Leben zu suchen. Sie ist die treibende Kraft, die mich motiviert hat, neue Dinge zu lernen und andere Menschen zu treffen.“ Das bietet Chancen, sich etwa über Rollenbilder von Frauen und Männern sowie ihre Aufgaben auszutauschen.
Trotz der Ermutigung durch ihre Familie sei sie als Kind schüchtern gewesen und hätte nur an kirchlichen Aktivitäten teilgenommen. „Ich fühlte mich unfähig, Menschen zu vertrauen und hatte Angst, mit ihnen zu interagieren.“
„Meine Mutter ist die treibende Kraft, die mich motiviert hat, neue Dinge zu lernen.“
Die Dinge begannen sich zu ändern, als Andrea 14 Jahre alt und eingeladen wurde, an einem Projekt von Plan International teilzunehmen, das die Führungsqualitäten junger Menschen fördern sollte. „Zunächst zögerte ich, daran teilzunehmen, aber meine Mutter ermutigte mich dazu. Was mich beim ersten Treffen am meisten beeindruckte, war die Botschaft, dass alle Diskussionsbeiträge wichtig sind und dass es so etwas wie einen schlechten Kommentar nicht gibt. Das gab mir das Gefühl, mich in einem Raum zu befinden, in dem meine Stimme immer gehört werden würde.“
Das von Plan International in Zusammenarbeit mit Beiersdorf entwickelte Projekt „Learn and Be Protected“ (Lernen und geschützt werden) vermittelt Jugendlichen, wie sie ihr Recht auf Bildung wahrnehmen und sich selbst vor Gewalt schützen können. Und auch Tabuthemen wie Teenager-Schwangerschaft, Sexualität, Familienplanung, Verhütung oder sexuelle Gewalt werden altersgerecht diskutiert.
„Ich befand mich in einem Raum, in dem meine Stimme gehört werden würde.“
Das Wissen über Gewaltprävention motivierte Andrea dazu, sich für Veränderungen in ihrem Lebensumfeld einzusetzen – zunächst durch ihre Kandidatur für den Vorsitz der Jugendvertretung an ihrer Schule. „Dieses Amt bot mir die Gelegenheit, mich für andere Kinder und Jugendliche einzusetzen“, erklärt sie.
Andrea organisiert und leitet mittlerweile Vorträge in Zusammenarbeit mit einer schulischen Beratungsstelle und entwickelte diverse Aktivitäten zur Verhinderung von Gewalt und Teenager-Schwangerschaften. Außerdem ermutigte sie Schüler, eigene (Lebens-)Projekte zu entwerfen. Die Jungen sollten dabei ihre Lebensziele formulieren. „Da ich bereits an den Projektworkshops von Plan teilgenommen hatte, wollte ich nun so etwas Ähnliches an meiner Schule durchführen“, sagt Andrea.
Ein Jahr später wurde die heute 18-Jährige eingeladen, einem Kommunikationskomitee einer Mädchenbewegung von Plan International beizutreten. Diese von jungen Menschen geführten Gruppe setzt sich für die Rechte und Gleichstellung von Mädchen und Frauen ein. Und die Mitarbeit in diesem Gremium hat Andrea geholfen, sich zu öffnen sowie öffentlich und frei zu reden.
„Als ich mich dieser Gruppe anschloss, erkannte ich, dass die anderen Teilnehmerinnen selbstbewusst und sicher auftraten. Ich sagte mir, dass dies mein Platz ist, an dem ich mich glücklich fühle“, erinnert sich Andrea. „Ich habe das Gefühl, dass die Leute einander zuhören, ohne beurteilt zu werden. Hier habe ich die Angst verloren, meine Ideen zu äußern.“
Mit wachsendem Selbstvertrauen bewarb sich Andrea 2023 um einen Platz im US-Jugendbotschaftsprogramm. Die Initiative bringt Studierende und erwachsene Mentoren aus verschiedenen Ländern Amerikas zusammen, um das gegenseitige Verständnis zu fördern, die Führungsqualitäten zu verbessern und die Jugendlichen darauf vorzubereiten, in ihren Gemeinden etwas zu bewirken. „Als Teil des Bewerbungsverfahrens habe ich mein Projekt ,Building Pathways‘ (Lebenswege aufbauen) vorgestellt, das sich auf die Prävention von Gewalt gegen Mädchen und die Entwicklung ihrer Selbstverteidigungsfähigkeit konzentriert“, erklärt Andrea, die überglücklich war als sie in das Austauschprogramm aufgenommen wurde.
Mit Blick auf ihre Zukunft erzählt Andrea, dass sie gerne Soziologie oder Psychologie studieren würde: „Ich möchte meine Arbeit zur Verhinderung von Gewalt gegen Mädchen und Frauen fortsetzen. Also möchte ich einen Beruf ergreifen, der es mir erlaubt, die Rechte von Mädchen und Frauen zu verteidigen. Man muss optimistisch und zielstrebig sein und darf nicht aufgeben, bis man sein Ziel erreicht hat“, sagt Andrea selbstbewusst.