Sie ist noch ein Mädchen von gerade mal zehn Jahren als ihre Eltern einen Heiratsvertrag mit einer anderen Familie schließen. Eine Mitgift wird an die Familie des Jungen geschickt – und der Vertrag ist besiegelt. „Ich war zu jung, um zu begreifen, was das bedeutete“, sagt Sen heute. „Irgendwann begann ich zu verstehen, warum mich die anderen Leute komisch ansahen.“
„Irgendwann begann ich zu verstehen, warum mich andere Leute komisch ansahen.“
Die inzwischen 20-jährige Sen und ihre Familie gehören der ethnischen Gruppe der Nung an und leben in den Bergen der Provinz Ha Giang im Norden Vietnams. Kinderheirat ist vor allem in ländlichen Gebieten des Landes verbreitet, in denen eine große Zahl ethnischer Minderheiten lebt. In den nördlichen Gebirgsregionen wurden 19 Prozent der Frauen, die aktuell zwischen 20 und 49 Jahre alt sind, vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet.
Zur Tradition und gesellschaftlichen Norm von ethnischen Minoritäten gehört auch die Akzeptanz einer Mitgift. Sie beruht auf dem Wunsch der Eltern nach einer besseren Zukunft für ihre Kinder und wirkt auf Außenstehende kompliziert. Die Höhe der Mitgift richtet sich nach dem Alter der Braut und ihrem familiären Hintergrund. Nach Ansicht von Sen sind sich die Menschen in ihrer Heimat zwar bewusst, dass Kinderheirat gegen die nationalen Gesetze von Vietnam verstößt, doch angesichts der wirtschaftlichen Gegebenheiten in den davon betroffenen abgelegenen Regionen scheint es oft keine Alternative zu geben, als die Töchter an wohlhabendere Familien zu verheiraten.
„Wenn die Mitgift akzeptiert wurde, würde ich zu einer anderen Familie geschickt werden.“
Als Sen älter wird, bekommt sie jedoch Angst vor ihrer bevorstehenden Heirat. „Ich wusste, wenn die Mitgift akzeptiert wurde, würde ich aufgrund dieses traditionellen Versprechens zu einer anderen Familie geschickt werden. Ich war besorgt, denn es gab keine Garantie dafür, dass mein angeblicher Ehemann mich nicht missbrauchen oder überhaupt heiraten würde, weil er stattdessen einen Job weit weg annehmen und dort heiraten könnte.“
Sen sagt, dass sie sich damals zunehmend unsicher fühlte und sich von ihren Freund:innen und ihrer Familie isolierte. „Zu wissen, dass ich jederzeit zu einer anderen Familie geschickt werden könnte, fühlte sich wie eine unsichtbare Fessel an, die mich daran hinderte, mein Leben zu leben. Es ist unfair, uns Mädchen die Chance darauf zu verwehren.“
Auch noch Jahre später erinnert sich Sen an das Schicksal eines anderen Mädchens aus ihrer Gemeinde, das ebenfalls zu einer frühen Heirat gezwungen worden war: „Sie wurde gezwungen, die Schule abzubrechen und bei der Familie des Bräutigams zu leben, bis sie volljährig geworden war und offiziell heiraten konnte. Sie musste auf dem Hof arbeiten und konnte nie genug Geld verdienen, um ihrer Situation zu entrinnen. Dann brachte sie ein Mädchen zur Welt – und ihre Tochter wurde einem Nachbarn versprochen, der Kreislauf wiederholte sich.“
Als Patenkind von Plan International ist Sen dagegen in einer besseren Position als viele ihrer Altersgenossinnen: „Dank des ,Champions of Change‘-Clubs konnte ich an vielen Aktivitäten teilnehmen, sowohl in der Schule als auch in meiner Gemeinde.“ Bei den Sitzungen der jungen „Champions des Wandels“ lernt Sen ein sicheres und offenes Umfeld kennen, in dem alle Kinder ermutigt werden, ihre Meinung zu äußern – ohne Angst vor einer Verurteilung. Der „Champions of Change“-Club veranstaltet Workshops zu Themen wie Kinderrechte, Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt, sexuelle Rechte und reproduktive Gesundheit, Menschenhandel sowie Kinderheirat. Die Auseinandersetzung mit diesen Themen sensibilisiert auch Sen dafür, welche Rechte Kinder haben und wovor sie geschützt werden müssen.
„Ich wurde allmählich selbstbewusster, konnte mich mit meinen Sorgen an meine Mitschülerinnen wenden, meine Lehrer und den Gemeindeleiter um Unterstützung bitten, meine Heirat doch zu verhindern“, erklärt Sen. „Es war nicht einfach und bedurfte der Bemühungen vieler Menschen, aber 2017 beschloss meine Familie schließlich, die Mitgift zurückzunehmen und meine Hochzeit abzusagen.“
„Wäre ich nicht dem Jugendclub beigetreten, würde ich jetzt auf einem Bauernhof arbeiten.“
Nicht länger durch die Last einer Kinderheirat gebunden, konzentriert sich die Schülerin wieder auf ihren Abschluss. Sie zeigt hervorragende Leistungen und 2018 gewinnt sie sogar den ersten Platz beim Wettbewerb „Exzellente Schulkinder“ – sowohl auf Bezirks- als auch auf Provinzebene. Sen schließt die Schule mit einer Hochschulqualifikation ab und erhält später einen Studienplatz an der Universität der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi. „Wäre ich nicht dem Jugendclub beigetreten, würde ich jetzt auf einem Bauernhof arbeiten und mein Potenzial nicht ausschöpfen“, resümiert Sen.
Das ehemalige Patenmädchen Sen kehrt regelmäßig in ihre Heimat zurück und unterstützt dort weiterhin den „Champions of Change“-Club. Entweder leitet sie dort die Sitzungen oder unterstützt die jüngere Generation der Clubmitglieder beim Erstellen von Lernmaterialien, die vor einer Frühehe schützen sollen. „Ich hoffe, dass meine Geschichte andere motivieren kann, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Ich arbeite auch mit Lehr- und lokalen Führungskräften zusammen, um die Bemühungen der Gemeinde zur Abschaffung von Kinder-, Früh- und Zwangsheirat zu unterstützen.“
„Ich unterstütze die Bemühungen zur Abschaffung von Kinder-, Früh- und Zwangsheirat.“
Als Moderatorin ermutigt Sen alle Mädchen und Jungen zu offenen und ehrlichen Gesprächen mit den Erwachsenen. „Wenn die Lücke zwischen ihnen kleiner wird, sprechen sie offener über Schwierigkeiten, über das Leben zu Hause, die Schule, ihre Aufgaben und sogar über frühe Heirat.“ Der Austausch über schwierige soziale Themen ist meist der erste Schritt hin zu einem Wandel, den Plan International zum Schutz der Kinder ethnischer Minoritäten in der Provinz Ha Giang erreichen will.
Marc Tornow hat Südostasien-Wissenschaften studiert und Vietnam mehrfach besucht. Die Geschichte von Sen wurde mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.