Von der Ha Long-Bucht im Norden über die alte Kaiserstadt Hue bis ganz nach Süden in das Mekong-Delta: Vietnam bietet auf 1.650 Kilometern viele landschaftliche und kulturelle Höhepunkte. Kein Wunder, dass im aufstrebenden Hotel-, Transport- und Gastronomiegewerbe Personal gesucht wird. Dieser Boom öffnet auch Chancen für Jugendliche aus ärmeren Landesteilen, die lediglich einer Förderung bedürfen. Dafür sind sie als Teilnehmende eines entsprechenden Kurses nach Hanoi gekommen – nach Thang Long, Aufsteigender Drache, wie die boomende Hauptstadt Vietnams dereinst hieß.
„Ich stamme aus einer großen Familie, und mein Vater ist vor meiner Geburt gestorben“, sagt Kieu, die aus einer Bergregion in der nördlichen Provinz Nghe An stammt. „Mein Bruder hat hohe Schulden, sodass ich allein über die Runden kommen muss, um meine Mutter nicht zu belasten.“ Die 19-Jährige hat eben einen dreimonatigen Lehrgang begonnen. Die Kurse organisiert Plan International in Hanoi zusammen mit einer örtlichen Berufsschule für junge Menschen aus prekären Lebensverhältnissen. Und Kieu ist eine der jungen Auszubildenden, die jene Fähigkeiten erlernen möchten, die jetzt in der aufstrebenden Tourismusbranche gesucht sind.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Tourismus studieren würde.“
Während Kieu von Mittwoch bis Sonntag in der Berufsschule, dem Hanoi Industrial Vocational College, ihren Tourismuskurs absolviert, arbeitet sie parallel in einem Café, um praktische Erfahrungen zu sammeln. Sie kümmert sich um alles: Von der Verwaltung der Kasse bis zur Zubereitung von Getränkespezialitäten wie verschiedener Milch- und Eiskaffees. Sie will unbedingt weiterkommen und versäumt keine Schicht. Manchmal arbeitet sie zwölf Stunden täglich – bedienen, managen und lernen. Im Café bleiben ihr dafür 18.000 Vietnamesische Dong (gut 0,70 Euro) pro Stunde. „Es ist schwierig, aber es gibt keine bessere Chance“, sagt sie.
Die langen Arbeitszeiten führen dazu, dass sie sich nicht immer auf den Unterricht konzentrieren kann und sogar manchmal einnickt. Doch sie bleibt entschlossen, in diesen drei Monaten des Kurses nicht aufzugeben. „Ich habe viele Träume“, sagt Kieu. „Ursprünglich wollte ich Polizistin oder Lehrerin werden und hätte nie gedacht, dass ich einmal Tourismus studieren würde.“
Während der Corona-Pandemie blieben weltweit viele Landesgrenzen geschlossen und an Reisen war unter den Quarantänebedingungen ebenfalls kaum zu denken – so auch in Vietnam. Das Projekt „Bereit für den Job“ von Plan International tritt der durch die Covid-19-Pandemie verschärften Jugendarbeitslosigkeit in Vietnam entgegen. Schon zuvor hatten junge Menschen in dem südostasiatischen Land große Probleme, einen Arbeitsplatz zu finden – auch und gerade aus abgelegenen ländlichen Regionen wie jener von Kieu.
„Ich bin zuversichtlich, nach dem Abschluss des Kurses eine gut bezahlte Stelle zu finden.“
Das Projekt bietet ihnen kostenlose Ausbildungsmöglichkeiten – in Branchen, die sie vorher vielleicht nicht als einen möglichen Arbeitsplatz in Betracht gezogen hätten, in denen aber Bedarf besteht. Die Teilnehmenden, insbesondere Frauen, werden mit gefragten Fähigkeiten bekanntgemacht: Gastgewerbe, Gastronomieservice, Abrechnungswesen und vieles mehr – allesamt Anforderungen, für die es eine Nachfrage in der wachsenden vietnamesischen Wirtschaft gibt. „Ich bin zuversichtlich, nach dem Abschluss des Kurses eine gut bezahlte Stelle zu finden“, sagt Kieu.
An der Hanoier Berufsschule lernen die Teilnehmenden auch Lebenskompetenzen, die ihnen einen selbstbewussten Umgang mit Herausforderungen erlauben. „Ich hörte durch einen meiner Lehrer von dem Projekt und entschied mich nach ein paar Tagen Bedenkzeit für den Tourismuskurs. Ich wusste, dass ich ein Vollstipendium erhalten würde.“
Anfangs sei sie nervös gewesen, gibt Kieu zu. Vor einer großen Gruppe fremder Menschen zu sprechen – das war sie aus ihrer Berggemeinde nicht gewohnt. Nachdem sie aber Techniken für freie Rede kennengelernt hatte, entdeckte sie, dass sie genau dafür eine besondere Begabung zeigte: „Ich erhielt im Kurs die Möglichkeit, die Moderation für eine Hochzeit zu üben, und jetzt denke ich darüber nach, eine professionelle Veranstaltungsorganisatorin zu werden.“
Ihre Lehrerin bittet die 19-Jährige einstweilen um Geduld, falls sie im Unterricht wieder einmal einschlafen sollte. „Ich weiß, dass ich mein Bestes geben muss, und meine Berufsschule tut alles, um mich zu unterstützen. Also muss ich mich noch mehr anstrengen.“ Kieu ist der Meinung, dass alle ihre Träume verwirklichen können, wenn nur hart genug gearbeitet wird, und gibt anderen jungen Menschen diesen Rat: „Glaube an dich selbst, entwickle deine inneren Talente und wähle einen Beruf, der zu dir passt, damit du eine bessere Zukunft hast.“
Marc Tornow hat Südostasien-Wissenschaften studiert und Vietnam mehrfach besucht. Die Geschichte von Kieu wurde mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.