„Ich fühlte mich nur sicher, wenn ich bei meiner Großmutter war.“
Die elfjährige Martha* lernte gerade für ihre Abschlussprüfung als am 15. April 2023 in der sudanesischen Hauptstadt die jüngsten Kämpfe ausbrachen. „Ich war zu Hause und las, plötzlich wurde überall in Khartum von Schießereien gesprochen. Und als ich sie hörte, bekam ich Angst.“
Da ihre Mutter zurzeit in einer anderen sudanesischen Stadt arbeitete, wurden Martha und ihre beiden jüngeren Brüder von ihrem Vater und ihrer Großmutter betreut. „Ich konnte nicht einen Moment allein sein. Ich begann, meiner Großmutter ständig zu folgen – selbst wenn sie im Bad war, blieb ich in der Nähe der Tür und wartete auf sie. Ich fühlte mich nur sicher, wenn ich bei ihr war.“
* Name zum Schutz der Identität geändert.
Die nächsten Wochen waren schwierig für Martha und ihre Familie, denn sie saßen 21 Tage lang in Khartum fest, während um sie herum die Kämpfe tobten. Es war viel zu riskant, eine Flucht aus der Hauptstadt zu versuchen. Anfangs konnte Martha noch mit ihrer Mutter telefonieren, doch als die Mobilfunknetze des Landes aufgrund von Energiemangel ausfielen, verlor die Familie den Kontakt zu ihr. „Wir können sie nicht mehr erreichen, wissen nicht, wo sie ist“, erzählt Martha.
Martha war vor rund zehn Jahren mit ihrer Familie schon einmal geflohen. Bewaffnete Konflikte und Hunger führte sie damals aus ihrer ursprünglichen Heimat Südsudan in das Nachbarland Sudan. Als sich dort im April 2023 nun der Konflikt verschärfte, Lebensmittel und Wasser immer knapper wurden, beschloss Marthas Großmutter, sich anderen Familien anzuschließen und die gefährliche Reise in den Südsudan anzutreten. Sie zählen damit zu den weltweit aktuell 110 Millionen Kindern, Frauen und Männern, die nach UN-Angaben ihre Heimat verlassen haben. Das sind fast zwei Millionen mehr als 2022, und Sudan ist der jüngste Brennpunkt auf der Erde, der zu dem negativen Trend beiträgt.
„Das letzte Mal sahen wir meinen Vater als er uns am Busbahnhof absetzte.“
Am Tag der Abreise blieb Marthas Vater jedoch im sudanesischen Khartum, um auf die Rückkehr der Mutter zu warten. „Das letzte Mal sahen wir ihn als er uns am Busbahnhof absetzte, wo wir und die anderen Familien sich versammelt hatten, um gemeinsam die Reise anzutreten“, sagt Martha leise. Fast einen Monat lang war die Reisegruppe von Khartum in Sudan nach Malakal in Südsudan unterwegs. „Unterwegs platzte ein Reifen, ein lauter Knall. Alle Fahrgäste schrien und weinten, vor allem die Kinder, weil sie dachten, es sei eine Schießerei im Gange. Nach drei Stunden ging es weiter.“
Erste Zwischenstation war schließlich Rabak, ein Ort auf der nördlichen Seite der Grenze am Weißen Nil in Sudan. Dort verbrachten die Reisenden einige Tage bei einer Familie, bevor sie ihre Flucht über rund 100 Kilometer zu Fuß bis zum Grenzübergang fortsetzten. Mittlerweile haben dort Zehntausende von Menschen auf ihrer Flucht vor der eskalierenden Gewalt die Grenzmarkierung in Richtung Süden passiert.
Auf der Südseite der Grenze setzte sich schließlich ein Minibus mit Marthas Familie an Bord in Bewegung. „Der Fahrer hatte ständig den Preis für das Ticket geändert. Wir hatten nicht den Betrag, den er von uns wollte, also erzählte meine Großmutter ihm unsere Geschichte und wie wir aus Khartum geflohen waren. Er ließ uns zu einem Sonderpreis einsteigen, weil meine Geschwister noch sehr jung sind“, erklärt Martha.
So erreichte das Mädchen mit ihren Liebsten die Ortschaft Renk etwa 64 Kilometer weiter südlich. In einem Transitzentrum wurden die Neuankömmlinge mit dem Nötigsten – wie Lebensmitteln, Wasser und Decken – versorgt. Mehr als 106.000 Menschen aus Sudan sind bis Anfang Juni insgesamt in Südsudan angekommen. Die meisten von ihnen sind zurückkehrende Familien, die den Südsudan zuvor auf der Flucht vor dortigen Krisen und Konflikten in entgegengesetzter Richtung verlassen hatten. In der Notunterkunft wurden und werden die am stärksten gefährdeten Menschen nun mit grundlegenden Dienstleistungen versorgt, bevor ihre Flucht weitergeht. Einige von ihnen sind dort jedoch dauerhaft gestrandet.
Marthas Familie hatte Glück im Unglück: „In Renk waren wir sehr erschöpft und hungrig. Wir verbrachten drei Tage bei einem unserer Verwandten, denn dies war ursprünglich unsere Heimat.“ Die Familie zog weiter nach Süden, weg von der Grenze zu Sudan, weg von den dortigen Kriegshandlungen. Schließlich erfuhren sie davon, dass Organisationen geflüchtete Familien mit Booten bis nach Malakal transportieren können.
Während sie auf freie Plätze in die Hauptstadt des Bundesstaates Central Upper Nile warteten, breiteten sich Durchfallerkrankungen aus: „Es war sehr ernst, und ich sah, wie Kinder starben“, erinnert sich Martha. „Niemand hat ihnen geholfen, weil es an Medikamenten fehlte. Ich hatte solche Angst, ein Familienmitglied zu verlieren, und weinte. Ich sagte meiner Großmutter, dass wir gehen müssten, weil ich hier nicht sterben wollte.“
„Es war sehr ernst, und ich sah, wie Kinder starben.“
Schließlich gelang es ihnen, Plätze auf einem der Boote zu finden, die Menschen nach Malakal bringen. „Wir verbrachten drei Tage an Bord. Es war eine lange und gefährliche Reise. Wir haben sogar eine Nacht auf dem Fluss verbracht und meine Großmutter hat versucht, mir die Namen der Orte beizubringen, denn ich war zum ersten Mal in Malakal“, sagt die Elfjährige.
„Ich weiß nicht, ob ich meine Freundinnen, Schule und Lehrerin jemals wiedersehen werde.“
Martha erklärt, dass sie in Renk geboren wurde und – mit nicht mal einem Jahr – nach Khartum in Sudan geflüchtet war. Bisher wusste das Mädchen nichts über ihre Heimat Südsudan. „Als wir endlich dort ankamen, fühlte ich mich etwas sicherer, aber bis jetzt wissen wir nicht, wo wir bleiben werden. Meine Großmutter sagte, dass wir hier früher mal Land hatten, aber sie weiß nicht mehr genau wo.“
Es ist jetzt etwa sechs Wochen her, dass Martha und ihre Familie am Ziel der Flucht angekommen sind – und das Leben ist immer noch alles andere als normal. „Bis jetzt kann ich mich nicht weit von meiner Großmutter entfernen. Sogar nachts schlafe ich bei ihr, weil ich Albträume habe. Ich weiß nicht, ob ich meine Schule und meine Lehrerin jemals wiedersehen werde. Auch meine Freundinnen haben Khartum verlassen und ich weiß nicht, wo sie sind. Ich vermisse sie so sehr.“
Plan International bietet in Malakal Maßnahmen für eine psychosoziale Unterstützung der geflüchteten Familien an. Allein dort leben rund 44.000 Binnenvertriebene, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Außerdem wurde ein sogenannter „Helpdesk“ eingerichtet, bei dem Familien Gefährdungspotenziale wie Gewalt, Missbrauch oder psychische Probleme melden können. Die Plan-Teams unterstützten dort zudem die Suche nach vermissten Familienmitgliedern. Sie sollen ausfindig und/oder mit getrennten Kindern zusammengeführt werden. So ist mittlerweile auch der Aufenthaltsort von Marthas Eltern bekannt: in Sudan.
Auch mit Bargeld und Gutscheinen helfen die Plan-Teams den Familien, ihr Leben wieder in halbwegs geregelte Bahnen zu bekommen. Doch die meisten der geflüchteten Kinder benötigt, wie Martha, einen sicheren Ort, an dem sie das Erlebte verarbeiten können. Diese befinden sich derzeit im Aufbau, damit Mädchen und Jungen zusammenkommen und spielen können.
„Ich hoffe, dass die Kämpfe bald aufhören und wir nach Khartum zurückkehren können, um endlich meine Mutter, meinen Vater und meine Freundinnen zu sehen. Und auch, um meine Schulausbildung fortzusetzen“, sagt Martha. „Hier [in Südsudan] kenne ich nichts und niemanden, es gibt nichts zu tun. Mein Kopf sagt mir, dass ich hierbleiben sollte, aber mein Herz, dass ich zurückgehen soll. Ich weiß nicht, wie sich meine Familie entscheiden wird, aber ich werde ihr folgen.“
Marthas* Geschichte wurde mit Material aus dem südsudanesischen Plan-Büro aufgeschrieben.