„Es ist besser zu Hause bei einem Schusswechsel zu sterben als hier an Hunger zu verenden.“
Wahllos abgestellte Traktoren und Lastwagen rotten an der Hauptstraße vor sich hin. Bierkästen stapeln sich in den Himmel. Männer sitzen auf Plastikstühlen an bunten Tischen der Bars und betrinken sich. Sie umgeben sich mit Mädchen und jungen Frauen. Prostitution ist im äthiopischen Kurmuk unweit des Sudans allgegenwärtig. Die Grenzstadt ist gut sechs Monate nach dem Beginn der Gewalteskalation im Nachbarland angesichts der Auswirkungen von Flucht und Vertreibung ein trostloser Ort. „Es ist besser zu Hause bei einem Schusswechsel zu sterben als hier an Hunger zu verenden“, sagt eine sudanesische Mutter im Geflüchtetenlager der Stadt.
Mitte April begann der Konflikt im Sudan etwa 1.000 Kilometer entfernt mit Kämpfen in der Hauptstadt Khartum. Mittlerweile sind laut Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) sechs Millionen Menschen auf der Flucht. Während 4,8 Millionen Menschen als sogenannte Binnenvertriebene Schutz im eigenen Land gesucht haben, sind mehr als 1,2 Millionen Geflüchtete in Nachbarländern, wie Tschad, Ägypten, Zentralafrikanische Republik oder Südsudan gelangt, 38.000 davon nach Äthiopien. Wiederum die Hälfte von ihnen, also 19.000 Menschen, haben allein in der Grenzstadt Kurmuk Schutz gesucht.
Eigentlich sollen die Menschen, die es hier ins Transit-Zentrum geschafft haben, nur rund eine Woche bleiben und anschließend auf eines der Geflüchtetenlager in der äthiopischen Region Benishangul-Gumuz aufgeteilt werden. Das Problem: Die Lager dort sind bereits überfüllt. Es werden keine Geflüchteten mehr aufgenommen. Das UNHCR und der staatliche Refugees and Returnees Service (RSS) wollen ein weiteres Lager in Äthiopien eröffnen. Doch dafür fehlt das Geld, heißt es vor Ort. Auch deshalb steht Kurmuk exemplarisch für das Dilemma der Humanitären Hilfe weltweit. Der Bedarf für Unterstützung ist höher als die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, entsprechende Mittel bereitzustellen.
Drei Viertel der hier im Camp wartenden Menschen sind Frauen und Kinder. Eine von ihnen ist Teresa. Sie haust mit ihren fünf Kindern und weiteren 200 Geflüchteten in einem Hangar. Eigene Notunterkünfte gibt es nicht, denn das Transit-Zentrum war nie darauf ausgelegt, Menschen über einen längeren Zeitraum zu beherbergen. Teresa und ihre Kinder leben seit vier Monaten hier. Sie ist schwanger. Ihr Mann ist während des Konflikts im Sudan getötet worden. Um ihre Kinder und sich in Sicherheit zu bringen, hatte sie Karthum verlassen. 15 Tage waren sie unterwegs. Doch ihre Hoffnung auf ein sicheres Leben ist längst der Verzweiflung gewichen. Um etwas zu essen zu beschaffen, hilft sie manchmal auf dem Markt aus oder wäscht Wäsche für andere. Aber satt bekommt sie ihre Kinder damit nicht. „Es sind unwürdige Lebensumstände“, sagt sie.
„Die Kinder sterben hier in unseren Händen.“
Denn es mangelt am allernötigsten: Es gibt so gut wie nichts zu essen. Lebensmittel sind so knapp, dass die Menschen in der Umgebung nach Essbarem suchen: Früchte, Wurzeln und Blätter. Doch es reicht nicht zum Überleben. Die Menschen sind unterernährt, von der Malaria ausgezehrt. Der Tod ist allgegenwärtig. „Die Kinder sterben hier in unseren Händen“, sagt ein RSS-Mitarbeiter. Allein in den vergangenen sechs Monaten waren es mehr als 100.
Es gibt keine Gesundheitsversorgung, keine Medikamente, keine Transportmöglichkeiten zum nächsten Krankenhaus. Rund 50 Kinder sind im Transit-Camp in den vergangenen Monaten zur Welt gekommen, ohne jegliche ärztliche Unterstützung. Die sanitäre Situation ist katastrophal: Durchschnittlich rund 600 Menschen müssen sich eine Latrine teilen. Das Risiko, sich an übertragbaren Krankheiten anzustecken, ist groß. Hinzu kommt die Gefahr eines Cholera-Ausbruches. In zahlreichen Regionen des Landes ist es bereits dazu gekommen.
Die Menschen hier im Camp sind auf sich allein gestellt. Deshalb greifen sie auf sogenannte „negative Bewältigungsmechanismen“ zurück. Ein beschönigender Fachbegriff, der nichts weniger bezeichnet als die schlimmsten Formen der Kinderarbeit: Mädchen und junge Frauen werden in die Prostitution mit allen körperlichen und seelischen Folgen gezwungen. Jungen müssen unter lebensgefährlichen Bedingungen in den zahlreichen Minen der Region nach Gold schürfen. Zudem missbrauchen bewaffnete Gruppen die Jungen als Kindersoldaten im innersudanesischen Konflikt. Darüber hinaus sind gerade unbegleitete Kinder einem hohen Risiko von Menschenhandel und Zwangsverheiratung ausgesetzt. Wie in jedem Konflikt bedeutet Armut das Einfallstor für Ausbeutung und Missbrauch von Kindern.
Der einzige Ort, der kurzfristig Schutz bieten könnte, wäre das Transit-Zentrum – wenn es denn entsprechend ausgestattet wäre. Das Überleben der Geflüchteten könnte gesichert und die humanitären Bedarfe abgedeckt werden – wenn ausreichend Nahrung und Wasser verteilt würden.
Plan International ist dabei, genau hier Abhilfe zu schaffen. Die Organisation hat im Camp einen ersten kinderfreundlichen Bereich eingerichtet, in dem täglich bis zu 500 Kinder betreut werden. Hier erhalten sie psychosoziale Unterstützung, um ihre Erfahrungen verarbeiten zu können. Ein neu gegründetes Kinderschutz-Komitee vermittelt im Camp die Bedeutung des Schutzes vor Gewalt. Es ist außerdem gelungen, unbegleitete Kinder wieder mit ihren Eltern oder Angehörigen zusammenzuführen.
Zudem arbeitet Plan International mit bislang 150 erwachsenen Geflüchteten zusammen, die sich bereit erklärt haben, Kinder in ihre Obhut zu nehmen. Diese werden dafür finanziell unterstützt. 3.200 Familien haben Nothilfe-Ausstattungen für Wasseraufbereitung, Desinfektion, Körperreinigung und Kleiderwäsche erhalten. Für die Wasserversorgung sind zwei Tanks angeschafft worden. Darüber hinaus erhalten fast 200 Kinder von ehrenamtlichen Lehrkräften Unterricht im Schreiben und Rechnen. Aber das ist bislang nicht viel mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Denn mehr als ein Drittel der Geflüchteten sind Kinder im schulpflichtigen Alter – also gut 6.500 Mädchen und Jungen.
Kurzfristig muss es darum gehen, die humanitäre Hilfe massiv auszubauen, um das Überleben der Menschen im Camp zu sichern. Das ist mit entsprechender finanzieller Unterstützung möglich. Eine dauerhafte, aber nach Lage der Dinge utopische Lösung für die Geflüchteten wäre die Umsiedlung in ein neues Geflüchtetenlager mit entsprechender Infrastruktur.
Aktuell ist davon auszugehen, dass die Kampfhandlungen im Sudan, die durch die aktuelle Regenzeit etwas an Intensität abgenommen haben, bald wieder steigen werden. Dies wird dazu führen, dass die Zahl der Geflüchteten in Kurmuk zunehmen wird. Die humanitäre Lage in der Region ist so dramatisch wie nie zuvor. Das Transit-Zentrum in Kurmuk steht beispielhaft dafür.