Es ist ein Moment, den Frailina (19) nie vergessen wird. An jenem Tag hält sie einen Vortrag an einer High School, das Thema: Gewalt und Mobbing in der Schule. Noch bevor sie vor das Rednerpult tritt, fällt ihr eine etwa 15-jährige Schülerin auf, die sich unruhig verhält und wegen ihres Verhaltens von ihren Mitschüler:innen geärgert wird. Als Frailina beginnt, über die Auswirkungen von psychischem Missbrauch zu sprechen, spürt sie, dass sie ihre Zuhörer:innen berührt – doch als sie sexuellen Missbrauch erwähnt, meldet sich plötzlich die Schülerin zu Wort: „Wie mein Cousin“, sagt sie, „der mich vergewaltigt hat, als ich acht Jahre alt war.“ Der Saal schweigt, dann fängt das Mädchen an zu weinen.
„Die anderen zeigten sich besorgt“, erinnert sich Frailina an diesen Moment. „Ihre Haltung war plötzlich ihr gegenüber ganz anders. Sie fragten mich, wie sie helfen könnten.“ Auch Frailina bringt der Vorfall an diesem Tag zum Nachdenken: Wie viele Kinder, die ein Trauma erlebt haben, schweigen? Wie viele von ihnen werden von Menschen verurteilt und ausgelacht, ohne dass diese von ihrem Schicksal wissen?
Die 19-Jährige hält einen Moment inne. Sie betrachtet das Foto von der dominikanischen Menschenrechtsaktivistin María Josefina Paulino Gómez, das als Anerkennung für ihre über 30-jährige Arbeit für Kinder und Jugendliche in Frailinas Heimat Puerto Plata an der Wand hängt. Im April 2022 kam sie beim Rückweg von einem Vortrag über Menschenrecht bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Frailina war mit ihr unterwegs, brach sich bei dem Unfall das Bein, ist derzeit auf Krücken angewiesen. Gemeinsam waren sie für die Organisation MAIS (Movement for International Self-Development in Solidarity) unterwegs. Die Organisation, mit der Plan International vor Ort zusammenarbeitet, hatte Frailina kontaktiert, nachdem diese während der Covid-19-Pandemie begonnen hatte, sich im Projekt „Down to Zero“ zu engagieren. Das von Plan durchgeführte Projekt will Kinder und Jugendliche in der Dominikanischen Republik vor Missbrauch und Ausbeutung schützen. „Von Themen wie Menschenrechte, kommerzielle und sexuelle Ausbeutung oder Schwangerschaft im Teenageralter hatte ich zwar schon früher einmal gehört, aber ich hatte keine wirklichen Informationen darüber“, erzählt Frailina. „Die interaktive Art und Weise und die klaren Worte, mit denen in dem Projekt alles erklärt wurde, motivieren mich bis heute.“
„Unter jungen Menschen ist Wissen über ihre Rechte nur wenig verbreitet. Das sollte in der Schule stärker gelehrt werden.“
Was ihr in den letzten zwei Jahren besonders geholfen hat, ist ihr umfangreiches Wissen über die Menschenrechte. „Unter jungen Menschen ist Wissen über ihre Rechte nur wenig verbreitet. Das sollte in der Schule stärker gelehrt werden. Denn diese Rechte gehören uns. Nachdem ich mich bei ‚Down to Zero‘ engagiert habe, kann ich sie einfordern, weil ich sie jetzt kenne“, sagt Frailina, die inzwischen als technische Assistentin für MAIS arbeitet.
Der Lieblingssatz ihrer verstorbenen Arbeitskollegin María Josefina lautete: „Wenn ich in ein Klassenzimmer gehe und sich eine Person mit dem Thema identifiziert oder ich bei auch nur einer Person etwas bewirken kann, dann ist meine Arbeit getan.“ Der fatale Unfall vor wenigen Monaten und der Verlust ihrer Mentorin hat bei Frailina auch emotionale Narben hinterlassen. Ihren Mut hat die junge Frau dadurch aber nicht verloren, im Gegenteil: Es ist ihre größte Motivation, Josefinas Arbeit fortzusetzen – und das Motto ihrer Mentorin ist auch ihr Leitspruch: „Wenn ich auch nur eine Person erreiche, hat es sich schon gelohnt“, sagt die junge Frau mit Nachdruck.
Frailinas Geschichte wurde mit Material aus dem dominikanischen Plan-Büro erstellt.