„Mein Vater war ein Sextourist“

Foto: Fran Alonso

Bivian* ist eine typische 12-Jährige: Sie spielt gern mit ihrem Handy, rennt mit ihren Brüdern herum, liest Bücher. Aber Bivians Vater war kein typischer Vater: Er kam als Tourist in die Dominikanische Republik und bezahlte ihre Mutter Ana* für Sex.

„Als ich 17 war, nahm mich eine Freundin mit in ein Kasino. Dort zahlte ihr ein etwa 20 Jahre älterer Amerikaner 100 Dollar, damit er mit mir schlafen konnte“, erinnert sich Ana*. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte ihre Freundin – die als sogenannte „Chula“ Mädchen an Männer aus dem Ausland vermittelte – Ana* und den Mann in ein Zimmer gesperrt. „Sie sagte, ich könne nicht gehen, bevor ich ihm gegeben hätte, was er wollte. Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte. Aber ich hatte mehr Angst davor, was sie mir antun würden, wenn ich nicht gehorchte, also fügte ich mich. So habe ich meine Jungfräulichkeit verloren.“

Eine Frau und ein Mädchen stehen mit dem Rücken zur Kamera, das Mädchen hat den Arm um die Frau gelegt.
Ana* (39) und ihre Tochter Bivian* (12) in ihrem Zuhause in Punta Cana. Plan International

Die Dominikanische Republik ist eine wichtige Touristenattraktion in der Karibik. Allein im Jahr 2019 wurden 7,5 Millionen Tourist:innen empfangen, im Jahr 2020 – während der weltweiten Corona-Pandemie – waren es immer noch 2,75 Millionen Menschen, die Urlaub in dem karibischen Staat machten. Die Region Punta Cana an der Ostküste der Dominikanischen Republik ist eine der Touristenhochburgen des Landes. 75 Prozent des gesamten Tourismus entfallen auf diese Region. Sie ist auch einer von mehreren Hotspots für die sexuelle Ausbeutung von Kindern, wie Untersuchungen der Menschenrechtsorganisation Justice Mission ergeben haben. Auch Ana* lernte dort zahlreiche Männer kennen, meist aus Nordamerika und Europa, die sie für Sex bezahlten. Und so auch die Väter von zwei ihrer Kinder.

„Man sagte mir, ich könnte genug Geld verdienen, um meiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen.“

Ana* (39), wurde von Touristen bezahlt, um mit ihnen zu schlafen

„Es war leicht, in diesen Lebensstil zu verfallen“, erzählt die heute 39-Jährige. „Meine Mutter hatte drei Jobs, um das Essen auf den Tisch zu bringen, wir hatten nie genug Geld. Mein Vater war krank, und man sagte mir, ich könnte genug Geld verdienen, um Medikamente für ihn zu kaufen und meinen Eltern und meinen vier Geschwistern ein besseres Leben zu ermöglichen.“

Als sie 20 war, wurde sie mit ihrem Sohn schwanger. Ana* kontaktierte den Vater des Jungen, der in den USA lebte. „Aber er hat mir nur 100 Dollar für eine Abtreibung geschickt“, sagt sie. „Das war das letzte Mal, das ich von ihm gehört habe.“ Ihr Sohn ist heute 18 Jahre alt.

Ein kleiner Junge und ein etwas größeres Mädchen gehen Hand in Hand, den Rücken zur Kamera.
Bivian* (12) mit ihrem jüngeren Bruder. Plan International
Eine Frau von hinten, sie hängt Wäsche auf
Ana* (39) arbeitet inzwischen nicht mehr als Sexarbeiterin. Plan International

Das Problem wird erkannt, aber nicht gemeldet

Die dominikanische Regierung ist seit langem aktiv im Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern, insbesondere in der Tourismusbranche. Zwar ist Sex zu verkaufen in der Dominikanischen Republik für Erwachsene nicht illegal, eine erwachsene Person oder ein Kind zur sexuellen Ausbeutung zu zwingen, zu täuschen oder zu nötigen ist jedoch ein Verbrechen. Die Durchsetzung der Vorschriften wird auf lokaler Ebene jedoch häufig behindert – etwa durch unzureichende Ressourcen, Ausrüstung und Ausbildung sowie zu wenig Personal bei der Polizei. Zudem wissen viele Menschen, dass sexuelle Ausbeutung von Kindern existiert, und oft kennen sie auch die Orte, an denen es stattfindet, doch nur wenige melden die Vorfälle den Behörden – meist aus mangelndem Vertrauen in das Justizsystem oder aufgrund der falschen Vorstellung, das Kind würde „arbeiten“, um seine Familie zu unterstützen, oder nicht wirklich missbraucht werden, weil es wie eine erwachsene Frau aussieht.

Mit Menschenhändlern nach Europa

Ana* lernte einige Jahre, nachdem ihr Sohn auf die Welt kam, einen etwa 60-jährigen italienischen Touristen kennen. „Er zahlte mir viel Geld, damit ich seine Freundin wurde. Alle drei Monate kam er zu Besuch und wenn er nicht da war, schickte er mir Geld, damit ich ein Haus mieten und Möbel kaufen konnte“, erinnert sich die 39-Jährige. Nach ein paar Jahren beschloss der Mann, dass Ana* zu ihm nach Italien kommen solle. Doch sie hatte Schwierigkeiten, ein Visum zu bekommen. „Also bezahlte er stattdessen Menschenhändler, die für mich falsche Papiere ausstellten und mich über die Türkei nach Italien bringen sollten. Er sagte, das sei der einfachste Weg.“

Doch mit ihrem gefälschten Pass kam Ana* nicht weit, strandete in einem Hotel in der Türkei – und der italienische Mann beschloss, sie fallen zu lassen. „Zu diesem Zeitpunkt erfuhr ich, dass ich mit seinem Kind schwanger war“, erzählt Ana*. Drei traumatische Monate verbrachte sie in dem Hotel. „Es war mit Menschen gefüllt, die um die halbe Welt verschleppt worden waren. Zweimal wurde ich vergewaltigt. Schließlich ging ich mit gepackten Koffern zum Flughafen und flehte sie an, mich nach Hause zu bringen.“ Sechs Monate später wurde ihre Tochter Bivian* geboren.

Ein Mädchen läuft eine Treppe hoch, es ist von der Seite zu sehen
Für ihre Tochter (Foto) wünscht sich Ana* ein besseres Leben als das ihre. Plan International

Der „richtige“ Vater

Die heute 12-Jährige lebt mit ihrer Mutter in Punta Cana. Wenn sie über ihren Vater spricht, dann klingt es einfach nur sachlich: „Ich habe ihn nie kennengelernt, ich habe nur ein altes Foto von ihm gesehen“, sagt sie. Die Vergangenheit ihrer Mutter ist Bivian* bewusst, für sie ist es völlig normal, über den Vater, den sie nie kennengelernt hat, zu plaudern. Er soll geheiratet haben – eine Frau, die er in Thailand kennengelernt hatte, einem weiteren Hotspot für Sextourismus. „Inzwischen ist er tot“, erzählt die 12-Jährige. „Ich war nicht traurig, als ich das hörte. Ich glaube tief in meinem Herzen, dass mein Vater ein schlechter Mensch war, weil er meine Mutter im Stich gelassen hat.“

„Ich hatte es satt, so zu leben, um zu überleben.“

Ana* (39), arbeitet inzwischen als Hausmeisterin in einer Schule

Bivian* sitzt mit ihrer kleinen Schwester auf dem Schoß vor dem Apartment der Familie. Sie unterhält die Kleine mit einem Spielzeugpinguin. Aus einem der vielen Nachbarfenster dröhnt laute Bachata-Musik. Die Mädchen leben hier mit ihrer Mutter, ihren drei Brüdern – und Stiefvater Julio. Seit elf Jahren ist er mit Ana* liiert, sie lernten sich wenige Monate nach der Geburt von Bivian* kennen. „Mein Leben änderte sich dramatisch“, erinnert sich Ana*. „Er gab mir Stabilität. Ich hatte es so satt, so zu leben, um zu überleben – Sex mit jemandem zu haben, den man nicht attraktiv findet und der oft viel älter ist als man selbst, ist wirklich furchtbar. Als ich Julio traf, hörte ich damit auf.“ Ana* arbeitet seitdem als Hausmeisterin an einer Schule, Julio verkauft Sonnencreme am Strand. Zusammen verdienen sie genug, um die Familie zu versorgen.

Ein Mädchen hat ein Kleinkind auf dem Arm, das Kleinkind ist von hinten zu sehen und verdeckt das Gesicht des Mädchens
Bivian* (12) mit ihrer kleinen Schwester. Plan International

„Die Person, die sich all die Jahre um mich gekümmert hat, ist Julio“, sagt Bivian*. „Er ist eine wichtige Person in meinem Leben – für mich ist er mein richtiger Vater!“ Bei der Frage, was sie über Männer denkt, ist das Mädchen sich nicht sicher: „Die Art und Weise, wie Männer meine Mutter behandelt haben, lässt mich glauben, dass Männer schlecht sind. Aber ich weiß genau, dass nicht alle gleich sind.“

Schutz vor sexueller Ausbeutung

Ana* ist fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass ihrer Tochter nicht das passiert, was ihr passiert ist. Dass sie ein besseres Leben führen kann. „In den letzten vier Jahren haben sie und auch mein Sohn an dem Projekt ,Down to Zero' von Plan International teilgenommen“, erzählt sie. „Auch ich habe an dem Projekt teilgenommen und Elternseminare besucht, die mir sehr geholfen haben. Das hat unser Leben völlig verändert.“

Bivian* ist eines von mehr als 6.000 Mädchen im ganzen Land, die im Rahmen des Plan-Projekts darin geschult wurden, wie sie sich vor sexueller Ausbeutung schützen und wie sie Missbrauchsfälle melden können. Nachdem die 12-Jährige alles über ihre Rechte erfahren hat – darunter auch das Recht, über ihr Leben und ihren Körper zu bestimmten –, veranstaltet sie nun selbst Workshops an ihrer Schule, um anderen Kindern ihr Wissen weiterzugeben.

„Bivian* hat gelernt, dass es viele Möglichkeiten gibt, im Leben voranzukommen, ohne sich verkaufen zu müssen“, sagt ihre Mutter. „Sie will Tierärztin werden. Gemeinsam werden wir ihren Traum Wirklichkeit werden lassen!“

*Der Name der Person wurden zum Schutz ihrer Identität geändert.

Katharina Hofmann hat die Geschichte von Ana* und Bivian* mit Material aus dem dominikanischen Plan-Büro aufgeschrieben.

Eine Patenschaft hilft

Gewalt, sexuelle Ausbeutung und Kriminalität beherrschen den Alltag von vielen Kindern in der Dominikanischen Republik – ein inakzeptabler Zustand. Mit einer Patenschaft unterstützen Sie nicht nur Ihr Patekind, sondern helfen uns auch dabei, unsere Kindesschutzprojekte vor Ort erfolgreich umzusetzen.

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