Deutlich verschlechterte Lebensbedinungen belasten den Alltag der Menschen längst nicht mehr nur in der Hauptstadt Port-au-Prince, sondern zunehmend auch im Südosten Haitis. Der sich fortsetzende Preisanstieg bei den Lebenshaltungskosten von durchschnittlich 88 Prozent innerhalb des letzten Jahres hat für die ohnehin schon verarmten Familien zu weiteren Problemen geführt. Durch die anhaltende Gewalt rivalisierender Banden, die vor allem rund um die Hauptstadt ganze Viertel kontrollieren, sind in dem karibischen Inselstaat Versorgungsketten unterbrochen. Dadurch ist landesweit der Zugang zu Nahrungsmitteln und Krankenhäusern eingeschränkt, viele Kinder können keine Schulen besuchen.
Den Preis dieser sozio-ökonomischen Krise zahlen vor allem Mädchen und Jungen. Für die 12-jährige Chedeline ist eine Teilnahme am Unterricht fast unmöglich geworden. „Wenn ich Hunger habe, kann ich nicht lernen“, sagt sie. „Ich habe heute Morgen noch nichts gegessen – ich hoffe, dass ich für den Rest des Tages etwas Reis bekomme.“ Und die zehnjährige Lettycia ergänzt, dass der einstündige Schulweg für sie immer beschwerlicher geworden sei: „Unterwegs fühle ich mich manchmal krank, schwach und am Rande des Zusammenbruchs, weil ich so hungrig bin. Wenn ich zu Hause ankomme, finde ich dort manchmal etwas zu essen, manchmal nicht.“
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) warnt, dass Millionen Menschen in Haiti von Hunger betroffen sind.
„Ich habe heute noch nichts gegessen – ich hoffe, dass ich etwas Reis bekomme.“
Am 6. Juni 2023 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 4,9 den Bezirk Sainte-Hélène im Südwesten Haitis – die Region ist kein Plan-Programmgebiet. Die Erschütterungen waren jedoch in allen Landesteilen zu spüren und verursachten Schäden an Gebäuden und Infrastruktur. Unter der Bevölkerung brach Panik aus, berichtet das Team von Plan International Haiti. Viele Menschen haben noch die verheerenden Folgen des großen Erdbebens von 2010 in Erinnerung, bei dem weite Teile des Landes verwüstet worden waren. Die neuerlichen Erdstöße kommen jetzt zu einer Zeit, in der Haiti mit einer außergewöhnlichen sozio-ökonomischen Krise zu kämpfen hat.
Die anhaltende Bandengewalt hat sich inzwischen über Port-au-Prince hinaus auf regionale Gebiete ausgedehnt, was es für Familien wie die von Chedeline noch schwieriger macht, sich angemessene Nahrungsmittel zu leisten oder überhaupt Zugang zu ihnen zu haben. „Ich habe Angst, allein nach Hause zu gehen“, sagt Dialissa. Die 15-Jährige lebt bei ihrer Patentante im Südosten Haitis, seit ihr Vater auf der Suche nach Arbeit in die benachbarte Dominikanische Republik ausgewandert ist. „Ich weiß nie, was mir passieren wird“, sagt sie mit Blick auf die eskalierende Bandengewalt, die zu Morden, Geiselnahmen und Vergewaltigungen geführt hat.
„Ich habe Angst, allein nach Hause zu gehen.“
Auch für Belladine, die mit ihrem Vater im südöstlichen Departement von Haiti lebt, ist die Angst vor der wachsenden Gewaltkriminalität real. „Die Banden hindern die Familien daran, ausreichend zu essen. Ich habe Bauchschmerzen vor Hunger, dann suche ich nach etwas, das mich ablenkt“, sagt sie. Die 13-Jährige versucht, zweimal täglich eine Mahlzeit zu bekommen. Doch es gibt Tage, an denen sie gar nichts isst.
Der Karibikstaat befindet sich in einer humanitären Krise wie nie zuvor. Die Gefahren, denen deshalb Kinder, Jugendliche und insbesondere Mädchen ausgesetzt sind, erscheinen riesig – und sie werden jeden Tag größer, resümieren die Fachleute von Plan International Haiti. Fast 90 Prozent der Bevölkerung lebt aktuell unterhalb der Armutsgrenze und ein Drittel ist von extremer Armut betroffen, lebt also von weniger als 2,15 US-Dollar am Tag.
Der Bedarf an humanitärer Hilfe ist immens – insbesondere aufgrund der Nahrungsmittelknappheit im Zusammenhang mit der gestiegenen Bandenkriminalität. Fehlender Zugang zu nahrhaften Lebensmitteln birgt zudem bei Kleinkindern das Risiko der Verkümmerung, also einem eingeschränkten Körperwachstum, sowie einer verminderten Gehirnentwicklung, was sich langfristig wiederum negativ auf die Lernfähigkeit der Mädchen und Jungen auswirkt.
Plan International Haiti konzentriert sich auf lebensrettende Maßnahmen für Kinder und Jugendliche, da diese besonders gefährdet sind. Trotz der gewaltigen Herausforderungen und Gefahren in dem Inselstaat, erreichen die Plan-Teams täglich Kinder und Jugendliche mit lebenswichtiger humanitärer Hilfe, etwa im Südosten und Nordosten Haitis. Mit Bargeldtransfers an bedürftige Haushalte in Höhe von jeweils 100 US-Dollar pro Person wurden allein von Juni 2022 bis April 2023 24.819 Menschen erreicht, 3.722 Haushalte erhielten Schulungen in den Bereichen Ernährung und Kinderschutz.
Eine von vier haitianischen Familien bezieht Wasser aus unsicheren Quellen, was ein erhebliches Risiko für eine Infektion mit Cholera darstellt. Um die Verbreitung mit der tödlichen Cholera einzudämmen, wurden an über 1.000 Haushalte Hygienesets mit Wasseraufbereitungstabletten, Seife, Desinfektionsmitteln, Damenbinden und einer transportablen Händewaschstation verteilt. Acht Wasserpumpen in vier Gemeinden des Departements Nordost wurden repariert sowie in lokalen Radiosendungen unter anderem für den Schutz vor ansteckenden Krankheiten geworben.
„Wenn ich Präsidentin von Haiti wäre, würde ich dafür sorgen, dass die Banditen aufhören, unschuldige Menschen zu töten.“
Außerdem informierten die Plan-Teams über sexuelle und reproduktive Rechte und Gesundheit – Themen, die während humanitärer Krisen oft unberücksichtigt bleiben. Dialissa hat an einer der Schulungen teilgenommen und finanzielle Unterstützung erhalten, um ihre Ausbildung zu fördern. „Wenn ich Präsidentin von Haiti wäre, würde ich das Problem der Unsicherheit lösen“, sagt sie. „Ich würde dafür sorgen, dass die Banditen aufhören, unschuldige Menschen zu töten, und dass wir uns alle zusammenschließen, um gegen sie zu kämpfen.“
Marc Tornow hat Haiti 2018 bereist und die aktuelle Geschichte zur sozio-ökonomischen Krise in dem Karibikstaat mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.