Haiti ist mit zahlreichen Krisen konfrontiert: Seit der Ermordung von Präsident Moise im Juli 2021 wächst die politische Instabilität kontinuierlich, auch die Gewalt durch Banden hat in den letzten sechs Monaten insbesondere in der Hauptstadt Port-Au-Prince ein neues Ausmaß an Intensität und Brutalität erreicht. Zehntausende sind deshalb aus ihren Häusern geflohen, suchen Schutz bei Gastfamilien oder in provisorischen Unterkünften. Naturkatastrophen wie Tropenstürme, Erdrutsche und Überschwemmungen waren in den letzten Jahrzehnten keine Seltenheit. Das starke Erdbeben, das im August 2021 den Süden des Landes erschütterte, und die weltweite Nahrungsmittel- und Treibstoffkrise, die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöst wurden, haben die bereits schwierige humanitäre Lage in Haiti zudem weiter verschärft.
„Die wirtschaftliche Lage meiner Familie erlaubt es mir nicht, wieder zur Schule zu gehen.“
Knapp die Hälfte der Bevölkerung Haitis ist von Hunger betroffen. Das führt nicht nur dazu, dass immer mehr Menschen im Land, darunter aktuell 22 Prozent der Kinder, chronisch unterernährt sind. Der Hunger bringt auch weitere weitreichende Folgen mit sich, insbesondere für Mädchen und Frauen. So sind sie in Krisenzeiten am ehesten körperlicher, verbaler, psychologischer und sexueller Gewalt ausgesetzt – vor allem, wenn sie unter schwierigen Bedingungen leben und nicht einmal über das Nötigste wie Nahrung, sauberes Wasser oder eine angemessene Unterkunft verfügen. Marie* (16) ist aktuell obdachlos. Sie lebt mit ihrer Familie in einem Zelt an einem staubigen Berghang. Im vergangenen Jahr wurde sie von einem Mann, der in der Nähe lebte, in sein Haus gelockt. „Als ich ankam, fasste er mich an und vergewaltigte mich“, erzählt sie. Damals war sie noch Jungfrau. Ihre Mutter meldete den Angriff der Polizei, doch der Mann war bereits geflohen und kehrte nicht mehr zurück. Obwohl ihre Eltern sie seitdem unterstützen so gut sie können, musste Marie die Schule abbrechen, als sie merkte, dass sie schwanger war. Hoffnung, dass sie wieder zurückkehren kann, hat sie nicht: „Die wirtschaftliche Lage meiner Familie erlaubt es mir nicht“, so die 16-Jährige.
„Mädchen gehören heute zu den Hauptleidtragenden der politischen und unsicheren Lage in Haiti“, sagt Débora Cóbar, Regionaldirektorin von Plan International für Lateinamerika und die Karibik. „Wenn Familien hungern, sind Mädchen oft gezwungen, sich um jüngere Geschwister zu kümmern, damit die Eltern arbeiten oder Nahrung finden können. Zu oft sind sie gezwungen, die Schule abzubrechen, was ihre Zukunft gefährdet und das Risiko von Gewalt erhöht.“
Locita ist eine alleinerziehende Mutter, die wie Marie* im südwestlichen Bezirk Nippes lebt. Sie lebt mit ihrem Vater und ihrem Sohn auf engstem Raum. Bei dem Dreijährigen wurde vor kurzem Typhus diagnostiziert – eine Krankheit, die in Haiti aufgrund des häufig verunreinigten Trinkwassers noch immer weit verbreitet ist. Das Kind will weder essen noch trinken, Locita hat zudem keine eigene Einnahmequelle und kann ihre kleine Familie nicht versorgen.
„Ich kann meinen Sohn nicht ernähren, weil ich es mir einfach nicht leisten kann“, sagt sie verzweifelt. Ihr Ex-Freund hat ihr zwar angeboten, sich um sie zu kümmern, doch Locita hat abgelehnt – weil sie sich und ihr Kind nicht in Gefahr bringen will: „Er ist gewalttätig“, so die junge Frau. „Er hat meine Mutter ins Gesicht geschlagen. Wie könnte ich mit jemandem zusammenleben, der so etwas tut?“
Insgesamt 4,4 Millionen Haitianer:innen sind auf dringende Nahrungsmittelhilfen angewiesen. Wir von Plan International haben unsere Arbeit vor Ort ausgeweitet, um haitianische Familien zu unterstützen, die wie Marie und Locita von der Hungerkrise betroffen sind. Bargeldtransfers ermöglichen es den Haushalten, für Lebensmittel und sauberes Wasser zu bezahlen. Die Bereitstellung von Wasseraufbereitungssets, Reinigungstabletten und verbesserten kollektiven Wassersystemen sorgt dafür, dass Kinder weniger Gefahr laufen, sich mit durch Wasser übertragene Krankheiten wie Typhus oder Malaria zu infizieren. Wir gehen auch auf die besonderen Bedürfnisse von heranwachsenden Mädchen, jungen Frauen sowie Schwangeren und stillenden Müttern ein, indem wir das Bewusstsein für sexuelle und reproduktive Rechte schärfen und sogenannte „Dignity-Kits“ mit Hygieneartikeln und Periodenprodukten verteilen.
Locita hat vor kurzem einen Geldtransfer erhalten, der für sie eine große Hilfe war: „Ich konnte Schulden bei den Leuten bezahlen, die mir Lebensmittel auf Kredit gegeben haben“, berichtet sie. „Und dann habe ich Lebensmittel für meine Familie gekauft. Ich empfinde großen Dank für alle, die mir geholfen haben.“
Auch Marie konnte dank eines Geldtransfers Nahrung für ihre Tochter besorgen. Da sie aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage war, ihr regelmäßig die Brust zu geben, ist das Kind unterernährt. „Wir konnten spezielle Nahrung für sie kaufen, um gegen die Unterernährung anzukämpfen“, sagt Marie. „Außerdem haben wir Essen für den Rest der Familie gekauft und auch etwas Geld beiseitegelegt.“
Die Geschichten von Marie* und Locita wurden mit Material aus dem haitianischen Plan-Büro erstellt.
*Name zum Schutz der Identität geändert
Weitere Artikel darüber, welche Auswirkungen Hunger auf Mädchen und Frauen weltweit hat, gibt es in unserem Schwerpunkt zu den hungrigsten Orten der Welt.