Weit im Norden Vietnams, nahe der chinesischen Grenze, ragen die grünen Berge der Provinz Hà Giang empor. Hier wächst Dani* mit ihren Geschwistern auf. Ihre Familie gehört zur indigenen Gruppe der H’Mong. Trotz der ärmlichen Verhältnisse ist es lange eine glückliche Kindheit, erinnert sich die heute 14-Jährige.
Leider ändert sich das, als sie in die siebte Klasse kommt. Während des Neujahrsfestes lernt sie einen Jungen kennen und beginnt, Gefühle für ihn zu entwickeln. Sie ist damals 12 Jahre alt. Ein paar Monate später trifft Dani ihn wieder, freut sich zunächst, ihn wiederzusehen. Doch er nimmt ihr das Handy weg, zwingt sie auf sein Motorrad und fährt mit ihr durch die Dunkelheit in sein Heimatdorf. Erstarrt vor Angst begreift sie, dass sie entführt wird.
Tatsächlich gehören Brautentführungen zur H’Mong-Kultur, nur, dass sich in der Tradition das Paar normalerweise auf eine inszenierte „Entführung“ einigt. Sobald das Mädchen die Schwelle zum Haus des Jungen überschreitet, wird sie seine Frau. Mit der Mitgift, welche die Familie des Bräutigams an die Familie der Braut zahlen muss, ist die Ehe dann besiegelt. Es kommt allerdings immer wieder zum Missbrauch dieser Praxis: Anstatt einer gemeinsam beschlossenen Inszenierung, werden Mädchen gewaltsam ohne ihre Zustimmung entführt.
„Meine Eltern hatten mir nie etwas über Brautentführungen erzählt, daher war ich verwirrt und hatte Angst. Ich wusste nicht, was mir passiert“, erzählt Dani heute.
Als sie im Haus ihres Entführers ankommt, weigert sie sich, dort zu bleiben. Verlangt, dass man sie zu ihren Eltern zurückbringt. Erst dann erfährt sie, dass ihre Eltern die Mitgift bereits angenommen haben. Also bleibt Dani nichts anderes übrig, als diese Situation widerwillig zu akzeptieren.
„Meine Eltern hatten mir nie etwas über Brautentführungen erzählt.“
In ihrer neuen Rolle als Ehefrau kann sie weder zur Schule gehen noch ihre Freund:innen sehen. Stattdessen steht sie jeden Tag um vier Uhr morgens auf, arbeitet auf den Reisfeldern, kocht, putzt und macht den Haushalt. Ihr Leben kommt der damals 12-Jährigen vor wie ein nicht enden wollender Alptraum. Sie erlebt verbale und körperliche Misshandlungen durch ihren Ehemann und seine Familie.
Nach vier Monaten weiß Dani, dass sie so nicht weiterleben kann und beschließt, zu fliehen. Also schleicht sie sich eines Tages davon, in der Hoffnung, ihre Eltern würden sich freuen, ihre Tochter wieder zu haben. Aber sie reagieren nicht wie erwartet: „Meine Eltern waren wütend und schickten mich zu meinem Mann zurück, weil sie die Missbilligung im Dorf nicht ertragen wollten“, erklärt Dani. In der H‘Mong-Kultur wird eine entlaufene Braut als eine unfähige Ehefrau angesehen, die Schande über ihre Familie gebracht hat.
Aufgeben will Dani aber nicht – auch wenn der zweite Fluchtversuch scheitert, und dann auch der dritte. Bei ihrem vierten Versuch macht sie sich eines Nachts auf den Weg, versteckt sich in einem der Nachbarhäuser und läuft los, sobald der Tag anbricht.
„Ich bin früh am Morgen aufgebrochen. Ich habe Abkürzungen durch den Wald genommen, um nicht gesehen zu werden, und bin bis vier Uhr nachmittags gelaufen. Ich bin 20 Kilometer bis zum Haus meiner Großmutter gelaufen“, erzählt Dani.
Zu ihren Eltern kann sie schließlich nicht zurückkehren, also versucht sie, bei ihrer Großmutter unterzukommen. Als ihre Eltern erfahren, dass sie dort ist, versuchen sie noch einmal, sie zu ihrem Mann zurückzubringen. Dani weigert sich – diesmal erfolgreich.
Nach vielen hitzigen Diskussionen geben ihre Eltern nach und erlauben Dani, im Dorf zu bleiben. „In gewisser Weise hatte ich Glück, denn meine Familie musste nicht allzu viel von der Mitgift zurückzahlen“, sagt Dani. Die beiden Familien einigen sich auf die Rückzahlung von 20 Millionen Vietnamesische Đồng (ungefähr 730 Euro) des ursprünglichen Brautpreises von 48 Millionen Vietnamesische Đồng (ungefähr 1.750 Euro).
Zurück zu Hause kommen neue Herausforderungen auf Dani zu. Ihre Mutter und ihre beiden älteren Brüder sind in der Zwischenzeit weggezogen, um Arbeit zu finden. Für Dani bedeutet das: Mehr Arbeit auf den Reisfeldern und im Haushalt. Ihr Vater kann seiner Tochter das Geschehene nicht verzeihen, fängt immer wieder Streit mit ihr an.
Dani hingegen träumt davon, wieder in die Schule zu gehen. Bis sie im neuen Semester zur Klasse dazustoßen darf, übernimmt sie zusätzliche Aufgaben, um Geld zu verdienen – ihre Nächte verbringt sie damit, zu lernen und sich auf den Unterricht vorzubereiten.
Wieder in der Schule, ziehen Mitschüler:innen über sie her, begegnen ihr mit gehässigen Kommentaren und Spott, weil sie vor der Familie ihres Mannes weggelaufen ist. „Sie konnten nicht verstehen, was ich durchgemacht hatte“, erzählt Dani traurig.
„Sie konnten nicht verstehen, was ich durchgemacht hatte.“
Aber neben alldem findet Dani auch Trost und Unterstützung: Lehrer:innen und lokale Politiker:innen besuchen sie zu Hause, sprechen mit ihrem Vater, ihren Freund:innen und anderen Gemeindemitgliedern, klären sie über die negativen Folgen von Kinder-, Früh- und Zwangsheirat auf.
Mit der Zeit gewinnt Dani ihr Selbstvertrauen zurück, was sich positiv auf ihre Schulleistungen auswirkt. Während sie ihren Freund:innen bei Schulaufgaben hilft, wird ihr klar, dass sie viel mehr tun könnte – viel mehr tun will. Da sie selbst als Kind verheiratet wurde, erkennt sie, dass viele ihrer Freundinnen ebenfalls von einer frühen Heirat bedroht sind. Davor möchte Dani sie bewahren.
„Kein anderes Mädchen sollte das gleiche durchmachen müssen wie ich.“
„Ich habe sehr dunkele Zeiten in meinem Leben überlebt. Ich möchte nicht, dass eine meiner Freundinnen die gleiche Erfahrung macht. Kein anderes Mädchen sollte das gleiche durchmachen müssen wie ich“, entscheidet sie. „Also habe ich viele Aufklärungsmaßnahmen von Plan International in meiner Gemeinde besucht und dabei vieles zum Thema Kinder-, Früh- und Zwangsheirat und Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt gelernt“, erklärt die 14-Jährige.
Die Workshops und Seminare reichen dabei von generationenübergreifenden Dialogen bis hin zu Jugendtheater, gemeinsamem Musikmachen und dem Drehen von Kurzfilmen. Hier erkennt Dani, wie wichtig ihr diese Themen sind und sieht sich jetzt als Verfechterin der Mädchenrechte.
Heute blickt Dani optimistisch und hoffnungsvoll in die Zukunft – ganz anders als noch vor einigen Jahren. Sie habe ihr Leben zurückerobert und wolle nun das Beste daraus machen, beschließt sie. „Ich werde mich auf meine Bildung konzentrieren. Ich möchte eine Fremdsprache lernen, zum Beispiel Japanisch, damit ich einen guten Job bekomme, um der Armut zu entkommen und meine Familie und mich selbst zu unterstützen.“
*Der Name wurde zum Schutz der Identität geändert.
Der Artikel wurde mit Material aus dem Plan-Büro in Vietnam erstellt.