„Als Mädchen vor kurzem die Schule abbrechen mussten, habe ich noch mit ihren Familien gesprochen“, erzählt Hawi. „Ich habe sie herausgefordert, sich für die Bildung ihrer Töchter einzusetzen. Aber jetzt? Jetzt frage ich nicht mehr nach ihren Rechten, weil ich nicht einmal mehr für meine eigenen Rechte einstehen kann – niemand kann mir helfen, denn aller hier sind verzweifelt.“
Viele Männer haben ihr Dorf in der äthiopischen Oromia-Region verlassen, Frauen und Kinder blieben zurück. Hawis Mutter Halima berichtet: „Die Frauen im Dorf sind dadurch noch verletzlicher geworden. Sie können ihre Kinder nicht ernähren, weil es keine Lebensmittel gibt und auch keine Ehemänner, die sie bei der Suche nach Nahrung und Lebensunterhalt unterstützen. Sie sind hoffnungslos, sie weinen viel und manche von ihnen verlieren darüber den Verstand.“
„Die Frauen sind hoffnungslos, weil sie ihre Kinder nicht ernähren können. Sie weinen viel und manche von ihnen verlieren darüber den Verstand.“
Vier Regenzeiten in Folge sind am Horn von Afrika ausgefallen, was bedeutet, dass die Region mit der schlimmsten Dürre seit 40 Jahren konfrontiert ist. In Äthiopien sind besonders der Osten und der Süden des Landes betroffen. Mehr als 185.000 Kinder sowie 206.000 schwangere oder stillende Frauen sind akut unterernährt. Über 2.000 Schulen wurden geschlossen, weshalb Hunderttausende Kinder und Jugendliche keinen Zugang mehr zu Bildung haben. Insgesamt benötigen 7,2 Millionen Menschen dringend Nahrungsmittelhilfen, mehr als vier Millionen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Laut aktuellen Vorhersagen könnte sich die Situation über den Herbst und den Winter weiter verschlimmern – auch die fünfte Regenzeit droht auszufallen.
„Ich habe noch nie eine solche Dürre erlebt. Ich hätte mir nicht ausdenken können, dass sie so sein könnte“, sagt Hawi. „Ich verstehe jetzt: Die Dürre ist der größte Feind für Mädchen. Sie macht Mädchen obdachlos, verstärkt die Gewalt gegen sie und den Missbrauch. Viele Kinder arbeiten jetzt in den Städten, auch viele meiner Freundinnen – sie müssen mehr leisten, als sie können.“
Halima stimmt ihrer Tochter zu. „Mädchen und Frauen gehen an sehr weit entfernte Orte, um Wasser zu finden“, berichtet die 30-Jährige. „Im Durchschnitt müssen wir zehn Kilometer laufen, nur wenige Teiche haben überhaupt noch Wasser. Das dauert oft drei bis vier Stunden und viele gehen nachts, weil sie denken, dass dann weniger Leute am Teich sind. Doch in der Dunkelheit lauern wilde Tiere. In der Nacht ist das Risiko außerdem noch höher, dass sie von Männern angegriffen oder missbraucht werden.“ Auch die Gesundheit der Mädchen und Frauen wird durch den Mangel an sauberem Wasser stark beeinträchtig: „Unsere Kinder sind ständig krank“, so Halima, „und wir haben nichts, um uns zu waschen.“
„Uns sind nur ein paar Rinder geblieben, aber auch sie sind auf dem Weg ins Grab.“
Die Familie lebt in einer Hirtengemeinschaft, ihr Vieh ist die Haupteinkommens- und Nahrungsquelle. Doch viele Rinder sind Halima und ihren fünf Kindern nicht geblieben. Auch Hawis Kuh, die sie von ihrer Mutter bekommen hat, ist in der Dürre umgekommen. „Ich habe meine Kuh ‚Harme‘ genannt, was ‚Mama‘ bedeutet“, erzählt die 13-Jährige. „Ich habe sie genauso geliebt wie meine echte Mama. Ich empfinde große Liebe und Respekt für die Natur und ganz besonders für Rinder.“ Sie habe geweint, sagt Hawi, doch niemand habe sie trösten können, denn „alle weinten. Uns sind nur ein paar Rinder geblieben, aber auch sie sind auf dem Weg ins Grab. Sie sind schwach und die meisten von ihnen sterben. Und nicht nur sie: Auch meine kleinen Schwestern werden immer schwächer.“
Der immer größer werdende Hunger zwingt Tausende Kinder dazu, sich auf die Suche nach Wasser, Weideland oder andere Hilfen zu machen und setzt sie damit einem erhöhten Risiko aus. Auch Hawis Bruder denkt darüber nach, das Dorf zu verlassen. „Er will auswandern“, erzählt die 13-Jährige. „Ich habe ihm davon abgeraten, aber wenn es so weiter geht, wird er es tun.“ Und, als ob ihre Zukunft schon feststünde, fügt Hawi hinzu: „Ich werde meine Brüder und Schwestern vermissen.“
Hawis Schule ist längst geschlossen, Unterricht gibt es für die Kinder nicht mehr. Als Mitglied in einem Schulclub, den Plan International an ihrer Schule gegründet hat, lernte sie von ihren Rechten und von Gleichberechtigung und engagierte sich für diese Themen erfolgreich in ihrer Gemeinde. Dafür hat sie nun kaum noch Kraft. Das Einzige, was sie aktuell noch aufrecht hält, ist ein kleines Kalb, das sich ans Leben klammert. „Die Dürre hat meine Rechte eingeschränkt. Kein Essen, kein Wasser, keine Möglichkeit, meinen Körper gesund zu halten – es ist ein düsteres Leben“, sagt Hawi. „Ich verbringe meine Zeit damit, mich um dieses Kalb zu kümmern. Ich weiß nicht, ob es überleben wird. Wenn das Kalb stirbt, bin ich mir über mein eigenes Überleben nicht sicher. Alles, was ich noch habe, ist dieses Kalb, also teile ich meine Nahrung mit ihm, weil ich es so sehr liebe.“
In Äthiopien geben wir in mehreren Projektgebieten, auch in der Oromia-Region, wo Hawi mit ihrer Familie lebt, lebensrettende Bargeld- und Nahrungsmittelhilfen aus. Wir versorgen Haushalte mit Tierfutter, damit sie ihre Lebensgrundlage sichern können, und schulen Menschen in den Bereichen Kinderschutz, geschlechtsspezifische Gewalt und psychosozialer Unterstützung. Mehr Informationen zu unserer Nothilfe gibt es hier.