Avelino tritt in die Pedale einer alten Nähmaschine. Die Nadel rasselt zwischen seinen Fingern und sticht durch einen bunt gemusterten Stoff, auf dem sich eine schnurgerade Linie abzeichnet. Ein traditioneller mosambikanischer Wachsdruck, den der 31-Jährige in seiner Werkstatt bald in eine wiederverwendbare Tasche verwandelt.
„Ich habe meine Leidenschaft für das Nähen während der Corona-Pandemie entdeckt. Während meiner Ausbildung bei Plan habe ich gelernt, Gesichtsmasken herzustellen“, erzählt Avelino, der jetzt als selbstständiger Schneider Bekleidung und wiederverwendbare Damenbinden herstellt. Das Vordach aus Blech schützt ihn vor den intensiven Strahlen der Sonne im südlichen Afrika.
„Während meiner Ausbildung bei Plan habe ich gelernt, Gesichtsmasken herzustellen.“
Avelinos Heimatort Jangamo liegt in der Provinz Inhambane im Südosten von Mosambik. Das Land ist dort, soweit das Auge reicht, von Palmen und smaragdgrünen Feldern umgeben. Die Landschaft ist eine völlig andere als während seiner Kindertage: Der Junge wuchs in den 1990er-Jahren in Maputo auf. In der Hauptstadt Mosambiks existieren Wolkenkratzer und Slumgebiete, Arm und Reich nebeneinander. Avelinos Vater arbeitete dort als Wach- und Zimmermann, während seine Mutter in Jangamo zurückblieb, um die Felder zu bestellen.
Der heute erfolgreiche Schneider wurde erst spät eingeschult, da sein Vater kein Geld hatte, um die Gebühren zu bezahlen. Und wenn Avelino zum Unterricht kam, wurde er gemobbt, weil er keine modische Kleidung trug und aus der Provinz kam. Doch sein Vater ermutigte seinen Sohn, bis zur Mittelschule weiter zu lernen – und das, obwohl die Familie sich nicht jeden Tag das Geld für die dafür benötigte Busfahrt leisten konnte. In der Schule schloss sich Avelino einer Jugendgruppe an, die über Rechte sowie sexuelle und reproduktive Gesundheit aufklärte. Das brachte für den Jungen eine Wende in seinem Leben: Sein Selbstwertgefühl verbesserte sich stetig.
„Ich wollte meinen Vater stolz machen und ihm meine Anerkennung zeigen.“
„Ich wollte meinen Vater stolz machen“, erinnert sich Avelino, der diesem unbedingt beweisen wollte, dass sich all die Mühe und Fürsprache für seinen Sohn gelohnt habe. Doch dann ereilte die Familie ein neuer Schicksalsschlag: „Mein Vater starb plötzlich an Malaria“, erinnert sich Avelino. „Es war wie in einem Horrorfilm. Nichts ergab mehr einen Sinn für mich.“
Im Alter von 15 Jahren war Avelino in der Hafenstadt Maputo plötzlich auf sich allein gestellt. Noch immer in Trauer, arbeitete er als Helfer auf Baustellen, um das Geld für den Abschluss der Mittelschule zu bekommen. „Ich hatte erkannt, dass ich nicht aufgeben darf.“ Eine Erkenntnis, die auch in Bezug auf die Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen, Frauen und Männern zunehmend an Bedeutung gewann.
Gerade als Avelino eine berufliche Perspektive für sich zu finden begann, als er in ein Programm für angehende Elektriker aufgenommen worden war, stellte sich eine bizarre Schwellung an seinen Füßen ein. Sie nahm ihm die Bewegungsfreiheit, der junge Mann bekam starke Schmerzen und konnte seine Ausbildung gar nicht erst beginnen.
„Mir wurde klar, dass ich nicht aufgeben sollte.“
Erst später wurde festgestellt, dass Avelino an Elefantiasis litt – einer Krankheit, die durch einen Parasiten verursacht wird, der die Lymphgefäße verstopft. Im Frühstadium der Infektion hätte die Krankheit geheilt werden können, doch im weiteren Verlauf zerstört sie die Lymphgefäße der Lymphknoten und führt zu wiederholten, schmerzhaften Schwellungen in den Beinen sowie der Leiste. In den ersten Jahren nach dem Ausbruch der Erkrankung konnte Avelino kaum laufen. Heute kann er sich mit Krücken fortbewegen, aber jährlich verschlimmern sich die Symptome. Avelino sagt, dass er sich als ein „Krüppel“ fühle.
Nicht lange nach dem Beginn seiner Erkrankung saß Avelino in einem Linienbus in Maputo und dachte daran, einfach vor seinem Dasein zu kapitulieren. Da sah er auf der Straße ein Kind in Lumpen, allein und im Regen stehend. „Ich fing an zu weinen. Auch wenn ich arm und krank war, hatte ich doch ein Zuhause und Kleidung. Mir wurde klar, dass ich nicht aufgeben sollte. Es war, als ob eine Glühbirne aufleuchtete. Stattdessen sollte ich anderen durch meinen sozialen Aktivismus helfen.“
Avelino begann, Gürtel und Hüte am Straßenrand zu verkaufen. Als er wieder einigermaßen mobil war, bekam er einen Job als Kassierer im öffentlichen Nahverkehr und engagierte sich wieder ehrenamtlich.
Die Corona-Pandemie sollte das Leben von Avelino dann vollends auf den Kopf stellen. Es gab Ausgangssperren, und da es ihm aufgrund seiner eingeschränkten Mobilität schon vorher immer schwerer gefallen war, sich in der Metropole Maputo fortzubewegen, zog er schließlich zu seiner Mutter, zurück in seine Heimat und aufs Land.
In Jangamo half er so gut es ging seiner Mutter bei der Landwirtschaft. Auf dem Feld kam oft eine junge Frau vorbei, deren Aussehen Avelino auffiel – und deren Persönlichkeit bald sein Herz eroberte: Odete. Heute ist sie seine Frau und die beiden haben eine zweijährige Tochter namens Imna.
„Manche haben Mitleid mit meiner Frau, weil sie denken, ich hätte keine Zukunft oder wäre wegen meiner Behinderung nicht fähig, mehr zu leisten. Aber ich bin ein Mensch wie jeder andere auch“, entgegnet Avelino. „Ich schäme mich nicht für das, was ich bin. Die Scham liegt nur bei den anderen Menschen.“
Nur einen Steinwurf entfernt von seiner Schneiderwerkstatt steht eine Strohhütte, die von Blechplatten bedeckt ist. Hier lebt Avelino mit seiner Familie. Der Familienvater hofft, bald ein richtiges Haus zu haben: „Dank meiner Arbeit konnte ich ein Stück Land kaufen und werde als Nächstes ein solides Haus bauen“, sagt Avelino.
„Dank meiner Arbeit konnte ich ein Stück Land kaufen und werde ein Haus bauen.“
Zurück in seiner Heimatprovinz Inhambane lernte Avelino auch die Aktivitäten von Plan International kennen. Die Kinderrechtsorganisation engagiert sich mit verschiedenen Projekten unter anderem für Bildung, Gleichberechtigung sowie sexuelle und reproduktive Gesundheit. So kam schließlich auch der junge Mann mit Behinderung zu den Schulungen, in denen es um die Gefahren von Kinderheirat und früher Schwangerschaft sowie häusliche Gewalt ging. Avelino verstand, dass sich schädliche Traditionen am besten durch Gespräche zwischen den Führungskräften in den Kindergärten, Schulen und Behörden sowie jungen Menschen ändern lassen.
Avelino wurde bald zu einem führenden Plan-Aktivisten und erhielt prompt den Spitznamen „Wonderman – Wundermann“, da er die Fähigkeit besitzt, mit jedem ins Gespräch zu kommen und seine Ansichten auf inspirierende Weise zu begründen.
Eine Gruppe von Mädchen und Jungen in bunten Trikots spielt Fußball auf einem Rasenplatz. Der Schiedsrichter pfeift ab und die Mannschaften ziehen sich an den Spielfeldrand zurück, um Wasser zu trinken und sich zu dehnen. Avelino hat die Gelegenheit der Pause genutzt, um über sexuelle und reproduktive Gesundheit und die Arbeit von Plan International zu sprechen. Bald hören die Kinder einem Mann zu, der sich auf einen Stock stützt und aufgeregt spricht. Avelino nutzt jede Gelegenheit, um über Menschenrechte und Gleichberechtigung zu sprechen. Und so lässt er auch keine Sportveranstaltung, kein Dorffest und keinen Jahrmarkt aus.
„Ich bin wegen meiner körperlichen Behinderung oft diskriminiert worden, aber das spornt meinen Aktivismus nur noch an.“
„Ich bin wegen meiner körperlichen Behinderung oft diskriminiert worden, aber das spornt meinen Aktivismus nur noch an. Ich kann nachempfinden, wie schlecht alle diskriminierten Gruppen behandelt werden“, sagt Avelino. „Ich mache mir Sorgen, dass viele junge Menschen aufgrund ihres geringen Selbstbewusstseins ihre Möglichkeiten und Lebenschancen nicht erkennen. Ich versuche, ihnen Beharrlichkeit beizubringen, indem ich mich selbst als Beispiel nehme. Jeder kann seinen eigenen Weg finden.“
Als Vater eines jungen Mädchens liegt Avelino die Gleichstellung der Geschlechter besonders am Herzen. Er wird nicht müde, über die Rechte von Mädchen und jungen Frauen zu sprechen und sagt zum Abschied: „Mein Geburtstag ist am 11. Oktober – dem Weltmädchentag.“
Die Geschichte des „Wonderman“ Avelino wurde mit Material aus dem Plan-Büro in Mosambik aufgeschrieben.