Von der schmerzhaften Abnabelung von der ehemaligen Besatzungsmacht vor 23 Jahren ist heute wenig zu spüren. Indonesien tritt viel mehr als gewichtiger Geschäftspartner in Erscheinung und liefert seinem Nachbarn alles – gegen Bezahlung, versteht sich. Timor-Leste setzt als eine der jüngsten Nationen der Erde große Hoffnungen auf einen ungehobenen Schatz vor seiner Küste: gewaltige Gas- und Ölvorkommen. Der südostasiatische Staat will die Ressourcen selbst ausbeuten. Noch ist es nicht so weit, noch mangelt es an geeigneten Industrieanlagen für einen Zugang zum Weltmarkt.
Nachdem zuerst die Portugiesen auf der Jagd nach Sandelhölzern und andere Naturprodukten 1515 in Timor-Leste an Land gegangen waren, geriet der Inselstaat auch kulturell unter Druck: Angestammte Bräuchte wichen europäischen Befindlichkeiten – bis mit der Nelkenrevolution 1974 in Lissabon auch für die Kolonien in Übersee die Zeit für mehr Freiheiten gekommen war. Den Ost-Timoresen wurde sie schon 1976 wieder genommen, der große Nachbar Indonesien besetzte den östlichen Teil der Insel Timor. Tetum, die aus portugiesischen, malaysischen und melanesischen Hintergründen entstandene Sprache, wurde verboten. Indonesische Namen wurden ausgegeben und die eben als überwunden geglaubte Ausbeutung ging weiter. Nach blutigen Protesten und Zehntausenden Toten stimmten am 30. August 1999 fast 80 Prozent aller Wahlberechtigten für die Unabhängigkeit. Ein neues Land erschien auf der Weltkarte. Und als es seine volle Souveränität gewonnen hatte, lagen 70 Prozent seiner wirtschaftlichen Infrastruktur am Boden.
„Dili wirkt wie ein großes Dorf, in dem die Globalisierung einzig in Form von Hamburger-Restaurants angekommen zu sein scheint.“
Das spiegelt sich bis heute in den Straßen der Hauptstadt wider, etwa 280.000 Menschen zählt sie und viele Leute kennen sich dort namentlich. Dili wirkt wie ein großes Dorf, in dem die Globalisierung einzig in Form einer Handvoll Hamburger-Restaurants angekommen zu sein scheint. Die Schnellrestaurants sind meist menschenleer und nur die junge Elite der Stadt hat sie als „coolen“ Treffpunkt für sich entdeckt. In den eisig kalt belüfteten Räumen laufen zu den Geschäftszeiten aktuelle Pop-Charts aus Nordamerika und es gibt gratis WLAN. So verbringen sie hier ihre Freizeit – mit dem Smartphone und den Träumen von einer modernen Außenwelt.
Nur die rivalisierenden Gangs in den Vororten Dilis, die sich über den unkontrollierten Zuzug aus anderen Landesteilen rekrutieren, stellen die Einwohner der Hafenstadt vor Herausforderungen. Nach Einbruch der Dunkelheit benutzen viele Leute lieber ein Taxi oder sie bleiben ganz zu Hause. Etwa 37 Prozent der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze und von weniger als 1,25 US-Dollar pro Person und Tag.
Zweieinhalb Stunden Fahrt für 36 Kilometer sind wahrlich kein Pappenstil. Im Schritttempo rollt der Allradwagen bergan, da weicht Fahrer Romaldo da Custo schon der nächsten metertiefen Furche aus, die sich mit dem Monsunregen wie die meisten Wege in Timor-Leste in eine schlammige Falle für Fahrzeuge verwandeln wird. Ringsum pittoreske Berge, die Ausläufer des sogenannten Bandabogens. Es sind Felsformationen vulkanischen Ursprungs, die schon gleich hinter der übersichtlichen Hauptstadt Dili steil empor schnellen.
Der Tourismus, der bei all der Naturschönheit viele Potenziale hätte, wird von der schlechten Erreichbarkeit des Landes gebremst. Eine internationale Fährverbindung gibt es nicht und die Flüge nach Dili sind rar. Fünfmal wöchentlich geht es ins australische Darwin, viermal wöchentlich heben die Jets nach Denpasar im indonesischen Bali ab. Die Tickets kosten je Richtung zwischen 170,- und 580,- Euro – ein Vielfaches eines hiesigen Monatslohns, der durchschnittlich bei etwa 140,- Euro liegt. Unerschwinglich für die meisten Menschen in Timor-Leste, die nach der gewonnenen Freiheit von einer wirtschaftlichen Entwicklung in ihrer Heimat träumen.
Marc Tornow hat Südostasien-Wissenschaften studiert und Timor-Leste 2019 besucht.