In Äthiopien wurden Millionen Menschen von Konflikt, Gewalt und Dürre aus ihrer Heimat vertrieben und leben in IDP-Camps (Internally Displaced People, deutsch: intern vertriebene oder binnenvertriebene Menschen). Diese Camps stellen besonders für Mädchen und Frauen ein gefährliches Umfeld dar. Die Anwesenheit bewaffneter Männer, der Verlust von Eigentum und die prekären Wohnverhältnisse machen sie anfälliger für geschlechtsspezifische Gewalt, zum Beispiel sexuelle Übergriffe.
Überlebende von solchen Übergriffen leiden als Folge häufig unter psychischen Problemen wie Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischem Stress und Selbstverletzungen. Die Gewalterfahrung wirkt sich langfristig auf den emotionalen Zustand der Betroffenen aus – ihr Alltag wird begleitet von Scham, Schuldgefühlen, Angst und Stigmatisierung, manche erfahren auch soziale Ausgrenzung.
Um die Überlebenden von geschlechtsspezifischer Gewalt unter den Binnenvertriebenen zu unterstützen, hat Plan International Dienste für psychische Gesundheit und psychologische Unterstützung (Mental Health and Psychological Support Services, kurz MHPSS) in den Camps eingerichtet. Sie sind Teil unseres mobilen Gesundheits- und Ernährungsprogramms, das Menschen in Not umfassende Gesundheitsversorgung bietet.
Die MHPS-Services identifizieren Menschen mit psychischen Erkrankungen und bieten Gruppen- und Einzeltherapie, Überweisungen, Folgeuntersuchungen und Sensibilisierungsmaßnahmen in der Gemeinschaft an. Derzeit wird zusätzlich testweise eine innovative Virtual-Reality-Technologie eingesetzt, um die bereits existierenden Dienste zu ergänzen.
Mithilfe von Virtual-Reality-Technologie (VR) können Nutzer:innen in andere Welten abtauchen. Über eine rundum geschlossene "Brille" sieht man dreidimensionale Bilder, wodurch im Gehirn der tragenden Person der Eindruck entsteht, dass man sich in einer neuen Umgebung befindet. Dort kann man sich dann auch um ganze 360 Grad drehen, umschauen und sogar durch die Gegend laufen.
Durch Controller, die man in den Händen hält, kann man auch Gegenstände in diesem Raum „greifen“ und bewegen, also mit der Umwelt interagieren – so taucht man vollständig in eine virtuelle Umgebung ein, weshalb man von einer immersiven Erfahrung spricht (das englische "immerse" bedeutet soviel wie eintauchen). Das Umfeld kann mit spezieller Software programmiert und gestaltet werden. Es kann sich um vollkommen fiktive und animierte Räume handeln oder um reale Szenen, die durch Spezialkameras gefilmt und in der VR wiedergegeben werden.
„Bei virtueller Realität werden virtuelle Inhalte in die physische Umgebung integriert. Das ermöglicht den Benutzer:innen, sich auf natürliche Weise damit auseinanderzusetzen“, erklärt Bethlehem Eyob, MHPSS-Spezialist bei Plan International Äthiopien. „Bei einer immersiven Erfahrung akzeptiert man die virtuellen Elemente als Teil der Umgebung und wird sich möglicherweise weniger der Tatsache bewusst, dass diese Elemente gar nicht Teil der physischen Realität sind.“
In Äthiopien soll die VR-Technologie eingesetzt werden, um die Therapie und Genesung von Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt zu unterstützen. Es gibt vielversprechende Forschung zu dieser Form der Behandlung von Trauma, insbesondere bei der Expositionstherapie. Dort werden die Patient:innen dem Kontext oder der Situation ausgesetzt, die für das Trauma relevant ist, damit das Gehirn das Erlebte neu einordnen und emotional verarbeiten kann. Der Vorteil von virtueller Realität ist dabei, dass der Kontext oder die Trigger des Traumas von dem Therapeuten bzw. der Therapeutin kontrolliert werden können. So können die Bedürfnisse der Patient:innen genauer berücksichtigt und die Therapie in einem geschützten Umfeld stattfinden.
Zunächst wird die VR-Technologie vor allem in der Therapie von Traumata infolge von Konflikten und geschlechtsspezifischer Gewalt eingesetzt. „Wir beschaffen gerade die Hardware und entwickeln die 3D-Animationsvideos, die bald fertiggestellt werden. Die ersten Sitzungen können dann in den nächsten Wochen stattfinden“, berichtet Bethlehem Eyob.