Die Zahl der Menschen, die durch Hungerkrisen oder gar Hungersnöte ernsthaft gefährdet sind, hat sich seit 2020 weltweit auf 276 Millionen mehr als verdoppelt. Um das Ausmaß solcher Krisen zu bewerten, Hilfsmaßnahmen zu organisieren und zu koordinieren, haben die Vereinten Nationen (UN) mit der „Integrated Food Security Phase Classification“ (IPC) Kriterien definiert. Sie reichen von Minimal (Level 1), über Krise (Level 3) bis zur Hungersnot (Level 5). Es besteht ein reales Risiko, dass 2022 mehrere Hungersnöte vom Level 5 ausgerufen werden müssen, zum Beispiel in Zentralamerika einschließlich Haiti, der Sahelzone und insbesondere die Zentralafrikanische Republik, Südsudan sowie im östlichen Afrika bis nach Syrien, auf die Arabische Halbinsel – und damit vielfach in Ländern, in denen wir von Plan International tätig sind.
Fast 8 Millionen Kinder unter fünf Jahren befinden sich nach UN-Angaben in lebensbedrohlichem Zustand – sie leiden unter schwerer akuter Unterernährung, beziehungsweise Auszehrung. Weitere 40 Millionen Kinder wachsen mit starker Ernährungsunsicherheit auf, das heißt sie erhalten nicht das für ihre Entwicklung benötigte Minimum an abwechslungsreicher und gesunder Nahrung. Darüber hinaus haben 21 Millionen Kinder keinen Zugang zu ausreichend Nahrung, um ihren kalorischen Mindestbedarf zu decken – Faktoren, die das Risiko für schwere Auszehrung erhöhen.
„Fast 8 Millionen Kinder unter fünf Jahren befinden sich nach UN-Angaben in lebensbedrohlichem Zustand.“
Aus meiner beruflichen Arbeit in Sambia, Uganda und Südsudan weiß ich, wie nervenaufreibend die Therapie und Heilung von schwerer Auszehrung ist. Nicht nur für das betroffene Kind selbst, sondern auch für Eltern und Pflegekräfte. Derartige schwere akute Unterernährung zu erleben, ist ein traumatisches, lebensbedrohliches Ereignis und der Erfolg der Therapie hängt von Geduld und Feingefühl bei der Therapie sowie vom Lebenswillen des Kindes ab.
Die Wahrscheinlichkeit von Langzeitfolgen bei Auszehrung ist enorm, denn die frühe Kindheit ist die Zeit, in der der Körper und seine Organe schnell wachsen. Allein das Gehirn verbraucht in den ersten Lebenswochen des Kindes zwischen 50 und 75 Prozent der aufgenommenen Nahrung und Energie. In den ersten 1.000 Tagen ist der Nährstoffbedarf am höchsten; die Entwicklung des Gehirns reagiert empfindlich auf die Ernährung. Fehlt es dem Kind in dieser Zeit an Fetten, Proteinen, Vitaminen und Mineralien, schädigt dies die Entwicklung und Funktionen des Gehirns in meist irreparabler Weise. Kinder benötigen in den ersten Lebensjahren auch eine ausreichende Ernährung, um sich körperlich optimal zu entwickeln, die Immunität gegen Infektionen aufzubauen und sich vor Infektionen zu schützen. Durch Unterernährung besteht für Kinder ein höheres Risiko, an vermeidbaren Krankheiten zu sterben.
Chronische Unterernährung hat eine zu geringe Körpergröße im Verhältnis zum Alter zur Folge (Wachstumsverzögerung). Bei akuter Unterernährung oder Auszehrung ist das Körpergewicht im Verhältnis zur Körpergröße zu gering. Untergewicht beschreibt ein zu geringes Körpergewicht im Verhältnis zum Alter, und Mikronährstoffmangel oder -insuffizienz einen Mangel an wichtigen Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen. Oftmals ist im Zusammenhang mit Unterernährung von Mangelernährung die Rede.
„Fehlt es dem Kind in den ersten 1000 Tagen an Fetten, Proteinen, Vitaminen und Mineralien, schädigt dies die Entwicklung und Funktionen des Gehirns in meist irreparabler Weise.“
Weltweit steigt seit 2014 die Zahl der Menschen, die an Hunger leiden und von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind. Die Corona-Pandemie, wie auch der Krieg in der Ukraine, verstärken Anfälligkeiten und Defizite der globalen Nahrungsmittelsysteme, denn Lieferketten sind unterbrochen und die Preise steigen. Mehr und mehr Gesellschaftsgruppen, die ökonomisch weniger gut aufgestellt sind, geraten in Nahrungsmittelunsicherheit. Allein im Jahr 2020 sind mindestens 83 Millionen Menschen mehr in chronischen Hunger getrieben worden, besonders Frauen und Mädchen sind betroffen. Für sie ist die Wahrscheinlichkeit, unter Untergewicht zu leiden, 9,3 Prozent höherer als bei Jungen und Männern.
Jennifer Arlt ist technische Expertin für Ernährungssicherheit bei Plan International Deutschland.