Sigfredo Ramirez, er war 26, fuhr als Reporter aufs Land, fand die Orte der Massaker in El Salvador und ging in die Häuser, in denen Kinder lebten, die ihre Eltern und oft auch ihre Geschwister verloren hatten. Über einen Monat recherchierte er, stets in der Gefahr, selbst Opfer einer der beiden Banden zu werden, die das Land terrorisieren.
„Damals hatte ich noch keine Familie“, sagt er. Heute ist ihm der Beruf des Reporters zu gefährlich, er ist 30, hat die Redaktion verlassen. Er lebt mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn Matthias als freier Journalist in San Salvador, schreibt Kolumnen für Zeitungen und ein Buch über die Geschichte seiner Heimatstadt Santa Tecla. Für ihn persönlich war der Ulrich Wickert Preis dreifach ein Gewinn: Er konnte sich über die Ehre und das Preisgeld freuen, er durfte nach Deutschland reisen („Da ist alles so gut organisiert, ganz anders als in El Salvador“), und er wurde berühmt in seinem Land: Die Universität stellte den Preis groß heraus und ihn als Professor für Journalismus ein.
„Das Land der Waisen“ erzählt die Geschichte eines Landes, das in Gewalt erstickt. Die Reportage von Sigfredo Ramirez, die er selber eine Chronik nennt, berichtet in der Rahmenhandlung von Gloria, einer jungen Frau mit einem Baby: „Vier der Kinder sind ihre eigenen und die anderen drei sind die Überlebenden des Massakers, bei dem neben Glorias Schwester und ihrem Lebensgefährten auch ein 12-jähriges Mädchen starb. Die Mörder kamen nachts in die tiefe Dunkelheit dieser Häuser, in denen es kein elektrisches Licht gibt.“
„Ich sah in einem Dorf Kinder, die zu Waisen wurden und zusammen mit dem Mörder ihrer Eltern quasi unter einem Dach leben.“
„Die professionelle Qualität der Reportage kann, auch mit westlichem Maßstab, als hoch eingestuft werden“, ist in der Jury-Begründung des Ulrich Wickert Preises zu lesen: „Einfache Rahmenhandlung und übersichtliche Chronik von Massakern im Land, verknüpft mit statistischen Befunden und emotionalen Schilderungen der Kinder-Schicksale. Der Reporter berichtet nicht aus zweiter Hand oder rattert Zahlen hinunter, sondern erzählt von seinen Reisen, Gesprächen und Beobachtungen überall im Land. Dazu kommt ein eindrucksvolles Layout mit starken Fotografien.“
Bei der Preisverleihung in Berlin erzählte er: „Ich sah in einem Dorf Kinder, die zu Waisen wurden und zusammen mit dem Mörder ihrer Eltern quasi unter einem Dach leben.“
Ramirez, der Reporter, war in das Dorf gefahren, in dem Gloria wohnt. Er sah, wie sie das sieben Monate alte Baby ihrer ermordeten Schwester in den Armen hielt. In seiner Reportage lesen wir:
Man sieht Gloria die Sorge an, die sie sich wegen des Verbleibs der Kinder macht. Das jüngste Massaker war nicht das erste Mal, dass ihrer Familie großer Kummer zugefügt wurde. Vor mehr als dreißig Jahren, mitten im Bürgerkrieg, wurde Glorias 15-jähriger Bruder zusammen mit einem Freund von genau diesem Gelände geholt und auf einem nahe gelegenen Grundstück von Kugeln durchlöchert. Gloria war noch keine 10.
Ebenso wie die jetzt von ihr betreuten Kinder wurde auch sie von Gewalt geprägt. Die Grausamkeit verschlingt eine weitere Generation. Wenige Minuten später kommen die Kinder nach Hause. Sie haben den Vormittag über in dem Haus gespielt, in dem ihre Eltern und ihre Schwester ermordet wurden. Die Vierjährige bringt sich ein paar Plastikschälchen mit, mit denen sie immer gespielt hatte. Sie lächelt, als sie sieht, dass ihre Tante wieder zuhause ist. Gloria weiß, was dieser liebevolle Blick bedeutet und wiederholt, was sie schon zu ihrer Familie gesagt hat: „Manchmal vertun sich die Kinder schon und nennen mich Mama.“
Die Nachrichten von den Massakern und Morden werden nicht unterdrückt, Zeitungen drucken sie immer und immer wieder. Eine Zensur findet nicht statt, sagt Sigfredo. „Du kannst die Regierung kritisieren, nur nicht die Freunde des Verlegers.“ Deprimierend für die Reporter ist vielmehr, dass ihre Reportagen keine Debatten auslösen: „Alles verpufft“, klagt Sigfredo. In seiner Reportage lesen wir:
Nachrichten von Kindern, die ein solches Massaker überleben, sorgen immer wieder für Bestürzung, empören eine von Gewalt gepeinigte Gesellschaft. Es ist Brutalität in ihrer extremsten Ausdrucksform. Am Samstag, 9. Oktober 2010, brachten sich ein Jugendlicher und zwei Mädchen, 10 und 8, rennend vor dem Massaker in Sicherheit, bei dem ihre Eltern und ihre neun Monate alte Schwester umgebracht wurden. Dies geschah in dem weitab liegenden Bezirk Agua Blanca de Anamorós.
2006 wurde ein Kaffeepflücker-Paar und drei seiner Kinder – darunter ein 40 Tage alter Säugling – im Weiler El Cipresal bei Santa Ana mit einem Kampfmesser ermordet. Die Leichen wurden von dem einzigen das Gemetzel überlegenden Familienmitglied aufgefunden, einem 13-jährigen Mädchen, das die Nacht in einem anderen Haus verbracht hatte und einen Schock erlitt, als sie zum Schauplatz des Geschehens kam. Viele, zu viele Fälle, bei denen die Behörden nicht wissen, was aus den Kindern und ihren Traumata geworden ist.
Die Mörder leben nebenan, sind Nachbarn der Kinder und Überlebenden. So müssen sich die Reporter stets fragen: Darf ich überhaupt den Ort des Massakers nennen? Die Namen der Opfer und Überlebenden? In seiner Reportage lesen wir:
Das älteste der überlebenden Kinder kommt und geht mit ihren Sachen, in Plastiktüten verpackt. Ihre Kleidung und ein paar Gefäße hat sie immer bei sich. Sie sieht gleichzeitig traurig und ärgerlich aus. Während sie den Pick-up belädt, ruft sie zwischendurch ihre Tante Lilian und erzählt ihr, wie schrecklich traurig sie doch sei. Erst heute erschien in einer Morgenzeitung ein ausführlicher Bericht, wie es ihr gelang, das Massaker an ihrer Familie zu überleben. Dieser Bericht zwingt sie jetzt zur Flucht. Sie hat Angst, die Mörder könnten zu Repressalien greifen.
Diese Jugendliche ist allein und schutzlos, sie hat keine andere Wahl, als noch heute von hier fortzugehen, von keinem geschützt. Die Zikaden zirpen an diesem Mittag.
„Keiner kümmert sich um die Kinder.“
Hunderte von Menschen werden heute immer noch ermordet, selbst ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Bürgerkriegs. „Dennoch interessiert sich niemand für die Waisenkinder“, sagt Sigfredo Ramirez, „das Thema scheint zum Tabu erklärt. Politiker reagieren nicht, keiner kümmert sich um die Kinder.“
Die Regierung wird nicht Herr über die Gewalt: Die Zahl der meist jugendlichen Bandenmitgliedern ist doppelt so hoch wie die Zahl der Polizisten. Als der Staat vor fünf Jahren den Banden den Krieg erklärte, so Sigfredo, schraubte sich die Spirale der Gewalt nur immer weiter in die Höhe. „Es ist schrecklich, es wird nicht besser“, schaut er in die Zukunft El Salvadors. „Waffen helfen nicht, nur Bildung wird die Gewalt beenden: Gute Schulen, mehr Lehrer – und in sieben Jahren würde dieses Land ein anderes sein.“
Er selber glaubt nicht daran. Seinen Sohn wird Sigfredo in eine private Schule schicken.
Die Reportage „Das Land der Waisen“ druckten einige deutsche Regionalzeitungen, darunter die „Schweriner Volkszeitung“ in der Übersetzung von Plan-Mitarbeiterin Antje Schröder.
Ulrich Wickert schrieb in einem Editorial zum Abdruck der Ramirez-Reportage in der „Thüringer Allgemeine“: „Die erste Regel für Journalisten hat Immanuel Kant vor gut zweihundert Jahren aufgestellt: Nutze die Freiheit, von Deiner Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen! Ich fürchte, immer haben noch nicht alle Journalisten bei uns die Regel verstanden. Umso wichtiger ist es, den Blick in die Welt zu werfen – ohne Vorurteile und eingeschränkter Perspektive. Wir sollten wissen, was in der Welt vor sich geht, damit wir nicht ahnungslos sind und erschrecken, wenn Flüchtlinge an unseren Grenzen stehen. Deshalb habe ich den 'Ulrich-Wickert-Journalistenpreis für Kinderrechte' ins Leben gerufen, mit dem ich, zusammen mit dem Kinderhilfswerk Plan, auch Journalisten aus den ärmsten Ländern unserer Welt auszeichne.“
Der Artikel erschien zuerst bei Kress. Wir freuen uns, dass wir ihn auch hier veröffentlichen dürfen.