Jana Kämmer arbeitet bei Plan International Deutschland als Programmspezialistin für die Region Ost- und Zentral-Ost-Europa, welche die Ukraine und die Nachbarländer Polen, Rumänien und Moldau umfasst. Die Projekte in der Region richten sich an Menschen, die vom Krieg in der Ukraine betroffen sind, insbesondere diejenigen, die fliehen und ihr Zuhause zurücklassen mussten und nun in anderen Teilen der Ukraine oder in den Nachbarländern Schutz suchen. Alle Projekte werden mit lokalen Partnerorganisationen umgesetzt, teilweise in enger Zusammenarbeit mit Geflüchtetenunterkünften oder Jugendzentren. Bei vielen dieser Projekte spielt der Aspekt „Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung“ eine wichtige Rolle.
Jana, was steckt hinter dem Begriff „Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung?
Jana Kämmer: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fasst unter psychischer Gesundheit das Wohlbefinden einer Person, sowie die Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten ausschöpfen zu können, zusammen. Das beinhaltet auch, Lebensbelastungen zu bewältigen und einen Beitrag zur Gesellschaft leisten zu können. „Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung“ (auf Englisch „Mental Health and psychosocial support“, kurz MHPSS, Anm. der Red.) umfasst also Aktivitäten, die das eigene Wohlbefinden verbessern sollen. Dabei werden auch soziale Aspekte, die die Psyche beeinflussen mit einbezogen, also das soziale Umfeld und andere Lebensumstände.
War die psychische Gesundheit schon immer Bestandteil der humanitären Hilfe?
Genau wie auch im Rest der Gesellschaft ist psychische Gesundheit meist nicht das erste Thema, was Beachtung findet, und dennoch wird es zum Glück Schritt für Schritt immer mehr ins Auge gefasst – auch in der humanitären Hilfe. Die Folgen von Krisen, Konflikt und Gewalt für die psychische Gesundheit werden immer mehr einbezogen. Im Kontext des Kriegs in der Ukraine werden sie als eins der größten Probleme und vor allem Langzeitfolgen benannt, sowohl von der ukrainischen Regierung als auch den Akteuren der humanitären Hilfe.
Wie ist die psychosoziale Unterstützung in die humanitäre Hilfe von Plan International eingegliedert?
Die verschiedenen MHPSS-Interventionen und -Aktivitäten der humanitären Hilfe bauen wie eine Pyramide aufeinander auf. Auf der ersten Stufe ist es zunächst wichtig, die psychologischen und sozialen Aspekte der Grundversorgung und Sicherheit zu betrachten: Haben Betroffene eine sichere Unterbringung? Haben Betroffene einen sicheren Weg, um an Nahrungsmittel zu kommen? Daher haben wir in unseren Projekten zusätzliche Bargeldunterstützung für Familien, deren Einkommen unter dem Existenzminimum liegt. So soll sichergestellt werden, dass die Grundbedürfnisse der Kinder in den Projekten gedeckt sind, dass sie zum Beispiel genug Essen, warme Kleidung und wichtige Medikamente haben.
Die zweite Stufe ist die Stärkung der gemeinschaftlichen und familiären Unterstützung. Das beinhaltet Sozialarbeit und Arbeit mit den Eltern und Betreuungspersonen. Die dritte Stufe ist die nicht-spezialisierte Unterstützung, zum Beispiel psychologische Erste Hilfe oder auch Trainings für Jugendliche und deren Eltern oder Betreuungspersonen zu „Life Skills“ – auf diesen Bereich beziehen sich die meisten unserer Aktivitäten. Und die letzte Stufe bezieht sich dann auf spezialisierte Dienstleistungen, darunter fällt dann spezifische Psychotherapie für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Traumatisierungen.
Welche Aktivitäten werden in der Projektarbeit umgesetzt?
In der Projektarbeit gibt es ganz viele verschiedene Aktivitäten im Bereich psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung: von Einzeltherapiesitzungen für Kinder, Jugendliche oder Eltern über Gruppenaktivitäten oder auch Aufklärungsworkshops zu relevanten Themen. Gruppenaktivitäten können verschiedene Freizeitaktivitäten mit Kindern und Jugendlichen in einem ähnlichen Alter sein. Dort können Kinder gemeinsam Spaß haben und einfach Kinder sein. Gleichzeitig werden auch Räume geschaffen, in denen sie die Möglichkeit haben, sich mitzuteilen und über belastende Erlebnisse zu sprechen. Zum Beispiel können Kinder mit kunsttherapeutischer Unterstützung einen Weg finden, mit anderen über ihre Erfahrungen ins Gespräch zu kommen.
„Kinder können mit Kunsttherapie einen Weg finden, mit anderen über ihre Erfahrungen in Gespräch zu kommen.“
Wie lange werden Kinder in diesen Projekten betreut und wer arbeitet vor Ort mit den Kindern zusammen?
Die Dauer der Unterstützung für ein Kind variiert von einem einmaligen Kontakt, beispielsweise, weil die Familie danach die Unterkunft verlässt, über regelmäßige Gruppenaktivitäten bis hin zu wöchentlichen Einzelsitzungen über mehrere Monate hinweg. Das hängt unter anderem davon ab, wie stark das Kind belastet ist, wie viel Angebote die Familie wahrnehmen möchte und benötigt.
Die Aktivitäten im Bereich MHPSS werden vorranging von Psycholog:innen und Sozialarbeiter:innen durchgeführt, meist haben sie Weiterbildungen im Bereich traumasensibles Arbeiten mit Kindern. Das ist sowohl für die Projektteilnehmenden als auch für die Mitarbeitenden wichtig, da es sein kann, dass sehr belastende Themen und Erlebnisse aufkommen. Dafür ist es notwendig zu wissen, was Warnsignale sind, wie man akut mit diesen Situationen umgehen kann und an welche Einrichtung man jemanden gegebenenfalls für spezialisierte Unterstützung weiterverweisen kann.
„Das Thema psychische Gesundheit ist auch in den Projektländern oft ein Tabu.“
Psychische Gesundheit ist häufig mit Scham und Stigma besetzt. Wie sieht es diesbezüglich in unseren Projektländern aus?
Das Thema psychische Gesundheit ist auch in den Projektländern oft ein Tabu. Auch unsere Partnerorganisationen, die oft schon deutlich länger in den Regionen arbeiten, haben uns das erzählt. Das heißt, dass man sich gut überlegen muss, wie man die Bereitschaft in der betroffenen Gesellschaft erreichen kann, sich für diese Themen zu öffnen. Das geht unter anderem über niedrigschwellige Angebote, um die Hürde zu verringern. Ein schönes Beispiel ist, über Sportaktivitäten oder Aufführungen der „Clowns without Borders“ mit den Kindern und Familien in Kontakt zu kommen und dabei die Information weiterzugeben, welche weiteren, gegebenenfalls spezialisierten und intensiveren Angebote es gibt. (Einen Artikel zu den Clowns without Borders können Sie hier lesen).
Was ist dein Wunsch für die Zukunft?
Mein Wunsch ist, dass der Weg weitergeht hin zu einer Entstigmatisierung von psychischer Gesundheit. Sie ist so ein wichtiger Teil der Gesundheit, der alles beeinflussen kann, unser tägliches Leben, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen, unsere Energie und Hoffnung, etwas in dieser Welt zum Besseren bewegen zu können. Und es ist so wichtig, Menschen und vor allem Kinder, die sehr belastende Erfahrungen machen müssen, darin zu unterstützen, diese zu verarbeiten und sie damit nicht alleine zu lassen – und das je früher desto besser. Das ist wichtig für jeden Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes.