„Je mehr Kinder, desto besser“

Foto: Charles Lomodong

Als jüngster Staat der Erde erlebt Südsudan immense Herausforderungen bei der Gesundheitsversorgung, berichtet unsere Expertin im Interview.

Die Corona-Pandemie hat weltweit den Blick auf andauernde soziale, medizinische und gesundheitliche Herausforderungen versperrt – auch und gerade im ostafrikanischen Südsudan.

Alissa Ferry, Plan-Expertin für sexuelle und reproduktive Rechte und Gesundheit, hat Rumbek im zentral gelegenen Bundesstaat Lakes besucht. Im Plan Post-Interview berichtet sie von unserer Arbeit für Mädchen und junge Frauen, über Familienplanung, Traditionen sowie Schutzmaßnahmen.

Alissa Ferry, Plan-Expertin für sexuelle und reproduktive Rechte und Gesundheit
Alissa Ferry, Plan-Expertin für sexuelle und reproduktive Rechte und Gesundheit Jenner Egberts

„Mehr als acht Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen.“

Alissa Ferry, Plan-Expertin für sexuelle und reproduktive Rechte und Gesundheit

Alissa, Mit welchen Herausforderungen haben die Menschen in Südsudan zu kämpfen?

Das ostafrikanische Land wurde 2011 gegründet und leidet aktuell unter einer schweren Hunger- und Sicherheitskrise. Mehr als acht Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen. Im Lakes State unterstützt Plan International daher vor allem Kinder und Jugendliche sowie ihre Familien.

Kochen und den Haushalt führen liegt in Südsudan traditionell bei den Mädchen und Frauen
Kochen und den Haushalt führen liegt in Südsudan traditionell bei den Mädchen und Frauen Charles Lomodong
Mädchen und Frauen bereiten eine Mahlzeit zu
Mädchen und Frauen bereiten eine Mahlzeit zu Charles Lomodong

Die Folgen für Mädchen und junge Frauen

Wie sieht die Situation für Mädchen und junge Frauen aus?

Wenn Hunger herrscht, sind Mädchen und Frauen zumeist diejenigen, die am wenigsten und zuletzt essen. Das Essen ist Männern vorbehalten, weil sie das Einkommen heranschaffen. Die Rolle der Frauen ist es hingegen, sich um den Haushalt zu kümmern und so viele Kinder wie möglich zu gebären, da diese als „Reichtum“ einer Familie gelten. Je mehr Kinder eine Frau zur Welt bringt, desto besser. Schulbildung wird in vielen Familien als nicht besonders wichtig erachtet – vor allem, wenn sie nicht erkennbar zu mehr Einkommen führt. Im Gegenteil: Es kann manchmal Konflikte hervorrufen, wenn eine Frau gebildeter ist als ihr Mann oder gar mehr Geld verdient.

Priscilla (16) ist das einzige Mädchen in ihrer Familie und noch nicht verheiratet
Priscilla (16) ist das einzige Mädchen in ihrer Familie – und noch nicht verheiratet Angela Machonesa

Das hört sich nach einem Teufelskreis an. Wie sieht es vor diesem Hintergrund mit der Eheschließung aus?

Die Mehrheit der Mädchen in Südsudan wird vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. In manchen Gemeinden ist das Einsetzen der Menstruation ein Zeichen dafür, dass das Mädchen nun eine Frau ist und somit bereit für die Ehe.

„Mädchen haben in südsudanesischen Familien einen großen Wert.“

Alissa Ferry, Plan-Expertin für sexuelle und reproduktive Rechte und Gesundheit

Mädchen haben in südsudanesischen Familien einen großen Wert, weil sie eine hohe Mitgift in die Familie bringen können. Wenn ein Mädchen heiratet, zahlt die Familie des Bräutigams der Brautfamilie in der Regel einen Preis in Form von Kühen. Die Mitgift bewegt sich zwischen ein paar wenigen bis hin zu 150 Kühen. Kühe sind ein Indikator für den Wohlstand einer Familie. Sie sind das Äquivalent eines Bankkontos in Südsudan.

Junge Frau in Südsudan
Junge Frau in Südsudan Shreeram KC

Also eine Art Tauschhandel, bei dem junge Frauen „verkauft“ werden?

Nun ja, in der Regel steht dahinter der Wunsch der Eltern, die Töchter gerade in Zeiten des Hungers in ein „gut situiertes“ Umfeld zu bringen, wo sie versorgt sind und die Brautfamilien über die Mitgift die eigene Familie weiter ernähren können.

Auch wollen Eltern ihre Töchter durch frühe Ehen vor sexualisierter Gewalt schützen. In humanitären Krisensituationen nimmt sexualisierte Gewalt gegen Frauen häufig zu. Es bedeutet einen hohen Schamfaktor, wenn ein Mädchen vergewaltigt wird und unehelich schwanger wird.

Die Mädchen werden auch verheiratet, um einer Stigmatisierung zu entgehen. Kinder-, Früh- und Zwangsheirat sind also oft eine Art „Bewältigungsstrategie“, mit der Familien versuchen, ihre Töchter vor vermeintlich schlimmeren Folgen zu schützen. Ein Teil von Plans Arbeit besteht darin, Strategien zum Schutz der Mädchen zu finden.

Im Büro von Plan International Südsudan
Im Büro von Plan International im südsudanesischen Rumbek Charles Lomodong

„Junge Frauen bekommen mehr Zugang zu Gesundheits-Diensten.“

Alissa Ferry, Plan-Expertin für sexuelle und reproduktive Rechte und Gesundheit

Was macht Plan International, um Mädchen in Südsudan vor Kinder-, Früh- und Zwangsheirat zu schützen?

Mit unserem gendertransformativen Projekt unterstützen wir Mädchen dabei, zu entscheiden, wen, wann und ob sie heiraten möchten. Wir arbeiten auch mit Gesundheitszentren und Gesundheitsfachkräften im Lakes State zusammen, damit junge Frauen mehr Zugang zu Gesundheitsdiensten bekommen.

In Südsudan nutzt nur ein Prozent der Frauen moderne Mittel für die Familienplanung. Dies ist zum Teil auf mangelndes Wissen zurückzuführen, aber auch darauf, dass es an qualifiziertem Gesundheitspersonal fehlt. Zudem wird vorehelicher Geschlechtsverkehr stigmatisiert. Und es gilt als erstrebenswert, möglichste viele Kinder zu bekommen.

Wie begegnet Plan dieser Herausforderung?

Wir arbeiten mit Gesundheitsfachkräften daran, das Thema sexuelle und reproduktive Rechte und Gesundheit an die Mädchen und Frauen heranzutragen. Das fängt damit an, dass wir eine einfache Sprache verwenden, wenn es um gesundheitliche Aufklärung geht. Junge Frauen können auch diskret Kondome in ihren Gemeinden bekommen.

Ist Familienplanung nicht ein heikles Thema, da sie es Frauen ermöglicht, selbst über ihren Körper zu bestimmen?

In der Tat, ja. Es gibt Mythen, dass Verhütungsmittel unfruchtbar machen. Viele Menschen glauben, dass wenn eine Frau einmal damit anfängt, ihre Fruchtbarkeit dauerhaft geschädigt wird. Genau wie bei uns sind auch viele Frauen in Südsudan skeptisch, Hormone zu nehmen. Kinder werden zudem sehr wertgeschätzt und gelten – wie gesagt – als „Reichtum“ der Familie.

„Wir weisen auf Gefahren hin, die mit zu schnell aufeinander folgenden Schwangerschaften verbunden sind.“

Alissa Ferry, Plan-Expertin für sexuelle und reproduktive Rechte und Gesundheit

Daher versuchen wir, die negative Haltung zur Verhütung zu verändern. Zum Beispiel weisen wir auf Gefahren hin, die mit zu schnell aufeinander folgenden Schwangerschaften für junge Frauen verbunden sind. Wir raten dazu, dass mindestens zwei Jahre zwischen zwei Schwangerschaften vergehen, weil der Körper diese Zeit braucht, um sich zu erholen. Und natürlich sprechen wir über Mythen und falsche Vorstellungen bezüglich Verhütungsmethoden – nicht nur mit den Mädchen und Frauen, sondern auch mit ihren Ehemännern und Eltern.

Frauen und ihre Kinder warten vor einer gesundheitsstaion auf Einlass
Frauen und ihre Kinder warten vor einer Gesundheitsstation in Rumbek auf Einlass Charles Lomodong

Das Thema Verhütung wird also eher indirekt angegangen?

Genau, indem wir über Gesundheitsgefahren von schwangeren Mädchen aufklären, vor allem in Zeiten großer Nahrungsmittelknappheit. Wir klären darüber auf, dass Komplikationen bei der Geburt für junge Schwangere zwischen 15 und 19 Jahren weltweit die häufigste Todesursache sind. In diesem Sinne bestärken wir die kulturelle Vorstellung, dass Mädchen „wertvoll“ sind und dass ihre Gesundheit geschützt werden muss.

Wie gebären Frauen im Südsudan denn ihre Kinder? Haben sie zum Beispiel Unterstützung durch Hebammen?

Die nächste Gesundheitsstation oder gar ein Krankenhaus sind oft weit weg. Südsudan ist ein riesiges Land, dass sehr dünn besiedelt ist. Entfernungen zu Gesundheitszentren sind oft weit. Es braucht tagelange Fußmärsche dorthin. Die wenigsten Frauen in Südsudan gebären mithilfe von Ärzt:innen oder ausgebildeten Hebammen. Die hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit im Land ist deshalb ein wichtiges Argument für unsere Überzeugungsarbeit, dass eine gute Grundgesundheit und ein höheres Heiratsalter das Risiko von Komplikationen bei Geburten erheblich minimiert.

Mutter mit Kind im Arm
Aman kümmert sich um ihren zweijährigen Sohn Ater Charles Lomodong

Wie stellt Plan sicher, dass Mädchen und junge Frauen ihre Rechte wahrnehmen können?

Wir führen getrennte Workshops mit Jugendlichen und Eltern durch. In einem 13-wöchigen Training lernen Jugendlichen sogenannte „life skills“, also „Lebensfähigkeiten“, kennen. Diese wöchentlichen Schulungen werden nach Geschlechtern getrennt und in festen Gruppen durchgeführt.

Wichtige Themen sind Pubertät und positive Beziehungen. Es geht darum, wie eine offene Konversation zu schwierigen Themen geführt werden kann. Jugendliche lernen, wo sie ihren Platz in der Welt sehen und wie sie sich ein schützendes Umfeld schaffen können.

Parallel arbeiten wir zehn Wochen lang mit den Eltern. In diesen Workshops geht es um ähnliche Themen. Zum Beispiel um vertrauensvolle Kommunikation zwischen Eltern und Kindern. Wir wissen, dass Eltern manchmal große Hürden für die Wünsche und Ziele junger Frauen darstellen, ihnen aber ebenso auch wichtige Unterstützung bieten können. Dafür braucht es positive Beziehungen, die wir fördern. Die bewirken dann wiederum, dass Mädchen mitentscheiden können, wen und wann sie heiraten.

Plan International Südsudan

Mehr Informationen zu unserem Engagement im ostafrikanischen Südsudan finden Sie hier.

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