Das Land, vor dem Murzia steht, ist weit. Üppig grün leuchten die Felder, auf denen in kurzen Büscheln der Reis steht. Mehrere Ernten sind in Bangladesch jährlich möglich – je nach dem, wie der Monsun ausfällt. Und je nach dem, ob es dort katastrophale Fluten gibt, oder die Menschen davon verschont bleiben. Das Wohl Hunderttausender Familien hängt vom mächtigen Brahmaputra ab. Der gewaltige Strom entspringt in den Bergen Tibets und trägt nähstoffreiches Wasser mit sich.
„Mein Vater ist ein armer Bauer ohne Land“, erzählt die heute 17-jährige Murzia. „Irgendwie sorgt er für uns, indem er auf den Feldern anderer Leute arbeitet. Er wollte, dass seine Kinder eine Ausbildung erhalten. Aber als mein Bruder ohne sein Einverständnis heiratete, war er emotional gebrochen. Er beschloss, dass auch ich heiraten sollte und nahm mich von der Schule.“
„Mein Vater beschloss, dass ich heiraten sollte.“
Bangladesch hat eine der höchsten Raten von Kinderheiraten weltweit. Mehr als 50 Prozent der bangladeschischen Frauen, die heute Mitte 20 sind, wurden in ihrer Kindheit verheiratet. Viele noch bevor sie 18 Jahre alt waren, fast 18 Prozent waren sogar noch unter 15 Jahre alt. Murzia wollte nicht auch eines dieser Mädchen werden – und protestierte. Sie verlangte von ihrem Vater, dass er ihre Rechte respektieren und sie weiter zur Schule gehen lassen sollte. Die Entschlossenheit des Mädchens brachte ihren Vater zum Nachdenken.
Die Schülerin kannte ihre Rechte und wusste somit auch um den drohenden Rechtsbruch. Nach geltendem Gesetzt beträgt das Mindestalter für Hochzeiten bei Mädchen in Bangladesch 18 Jahre. „Building a Better Future for Girls“ („Eine bessere Zukunft für Mädchen aufbauen“) nennt sich das Projekt von Plan International im Bezirk Kurigram im äußersten Norden von Bangladesch, an dem Murzia teilnimmt. Es unterstützt die Bemühungen der Regierung, das Land bis 2041 frei von Kinderheirat zu machen. Murzias Vater hörte sich die Argumente seiner Tochter an – und schließlich stimmte er zu, dass sie ihre Ausbildung doch beenden könne. Ein Triumph für das Mädchen!
Nachdem es Murzia gelungen war, ihre eigene Kinderheirat zu verhindern, begann sie damit, in ihrer Gemeinde für Aufklärung zu sorgen. Sie wandte sich an ihre Klassenkameradinnen, um auch deren Bewusstsein für die Gefahren einer frühen Heirat zu schärfen. Inzwischen fährt sie regelmäßig zu den Häusern von Mädchen, die von einer Kinderheirat bedroht sind. „Mein Fahrrad ist mein täglicher Begleiter bei dieser Kampagne“, sagt sie. Dann spricht sie mit den jungen Frauen über die körperlichen Gefahren einer Frühehe. Wenn Kinder Kinder bekommen, kann dies für beide lebensbedrohlich werden. Eine fehlende Schuhlausbildung sorgt wiederum für anhaltende Armut der jungen Familie, weil die Aussicht auf eine besser bezahlte Arbeit fehlt – und vieles mehr.
An der Seite von Murzia engagiert sich die 17-jährige Ashfia. Auch sie verhinderte ihre eigene Heirat, nachdem sie im Rahmen des Plan-Projekts mehr über die Hintergründe und Folgen von Kinderehen erfahren hat. „Ich wollte studieren, mich weiterbilden“, sagt die junge Aktivistin. „Ich habe im Jugendforum einiges über die Kinderheirat gelernt und gebe mein Wissen jetzt an andere weiter. Ich kläre andere Mädchen über die Folgen einer Kinderehe auf.“
Manche bereits arrangierte Ehe wurde durch die jungen Aktivistinnen sabotiert. Ashfia etwa hat dazu beigetragen, 19 Kinderheiraten in ihrer Gemeinde zu verhindern.
„Ich kläre andere Mädchen über die Folgen einer Kinderehe auf.“
Als aktive Mitglieder eines Debattierclubs setzen sich Ashfia und Murzia an ihrer Schule regelmäßig für die Abschaffung der Kinderheirat ein. Die beiden sind inzwischen für ihre Redegewandtheit bekannt. „Wir wurden im freien Sprechen und Reden geschult, und ich habe sogar einen Preis als beste Debattiererin auf Bezirksebene gewonnen“, erzählt Ashfia stolz.
Marzia möchte später Krankenschwester werden, um Bedürftigen zu helfen, und Ashfia hofft, eines Tages Richterin zu werden. „Ich möchte mich für die Rechte der unterprivilegierten Mädchen einsetzen“, sagt sie. Bis es so weit ist, wird es wohl noch einige Ernten entlang des mächtigen Flusses Brahmaputra geben.
Marc Tornow hat Bangladesch mehrfach bereist und die Geschichte von Murzia und Ashfia mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.