Yarik ist mit seinen acht Jahren schon ein begnadeter Schachspieler. Gerade hat der Junge die Fähre verlassen, die ihn aus seiner Heimat, der Ukraine, in das Nachbarland Rumänien gebracht hat. Yarik kommt mit seiner Mutter Uliy aus Odessa. Gemeinsam mit seinem bestem Freund Alexay (10) und dessen Mutter sind sie aus der Hafenstadt am Schwarzen Meer geflohen. Die Väter der beiden Jungen sind noch immer dort.
Die zwei Frauen und ihre Söhne sind mit dem Auto nach Isaccea gekommen – es ist randvoll mit ihren Besitztümern, darunter Yariks heißgeliebtes Schachspiel. An verschiedenen Meisterschaften hat der Achtjährige bereits teilgenommen. Seine Mutter ist sich sicher: „Er könnte der nächste Champion sein!“ Selbst der bewaffnete Konflikt in der Ukraine könne ihn nicht davon abhalten, seinen Traum zu verwirklichen, sagt sie.
„Zum Glück konnten die Kinder etwas schlafen, auch wenn sie noch immer sehr ängstlich sind und viel weinen.“
Den Entschluss, Odessa zu verlassen, trafen Yariks Eltern, nachdem sie in der Ferne Luftangriffe gehört hatten. Wegen der schwierigen Umstände mussten sie nicht nur Yariks Vater, sondern auch seine Großmutter und Urgroßmutter zurücklassen – bis jetzt haben sie keine Möglichkeit, die drei zu kontaktieren. Die Schule der Kinder wurde vor rund einer Woche geschlossen. Die Jungen haben ihre Schulbücher mitgebracht, um dennoch weiter lernen zu können.
Uliy ist sichtlich erschüttert von den Ereignissen der vergangenen zwei Wochen. „Zum Glück konnten die Kinder etwas schlafen, auch wenn sie noch immer sehr ängstlich sind und viel weinen“, sagt sie. Uliy versucht, die Jungen so gut es geht von der aktuellen Situation abzulenken, etwa indem sie mit ihnen Kartenspiele spielt.
Mehr als zwei Millionen Menschen haben die Ukraine aufgrund des bewaffneten Konflikts bereits verlassen, wie die Vereinten Nationen mitteilten – und es werden stündlich mehr. Auch in Isaccea lässt der stetige Strom von Familien, die mit der Fähre ankommen, nicht nach. Fast 320.000 der Geflüchteten sind bisher nach Rumänien eingereist. Freiwillige in Isaccea empfangen sie beim Verlassen der Fähre und bringen sie in ein großes, orangefarbenes Zelt. Hier gibt es heiße Getränke, etwas zu essen und Decken, aber vor allem auch Informationen, wie es weitergehen kann. Außerdem stehen große Kisten mit Spielzeug bereit, die für leuchtende Kinderaugen sorgt – denn ihr Inhalt ermöglicht es den Mädchen und Jungen in dieser schweren Zeit für einen kurzen Moment beim Spielen einfach wieder nur Kinder sein zu können.
„Plan International setzt sich dafür ein, dass Kinder in Notsituationen sicher sind.“
Plan International ist mit Einsatzteams an den Grenzen zu Polen, Moldawien und Rumänien. „Eines von fünf Kindern lebt in Ländern, die von Konflikt und Katastrophen betroffen sind“, sagt Katie Morrison, Kommunikationsdirektorin für Kampagnen und Programme bei Plan International. „Wir setzen uns dafür ein, dass Kinder in Notsituationen sicher sind. Wir arbeiten mit Organisationen vor Ort zusammen, um sicherzustellen, dass ihre akuten Bedürfnisse erfüllt werden, dass sie ihre Schulbildung fortsetzen können, dass sie psychosoziale Unterstützung erhalten und dass sie in Sicherheit bleiben.“
Zu Beginn der Krise war das orangefarbene Zelt nur halb so groß. Inzwischen ist es ein voll funktionsfähiges Aufnahmezentrum mit Räumen zum Ausruhen, Teestationen, Informationen zu Weiterreise und mit vorrübergehenden Unterkunftsmöglichkeiten. Für Mädchen und Frauen gibt es hier außerdem – sofern verfügbar – Hygieneartikel und für junge Mütter zudem Windeln und Baby-Feuchttücher.
Ein weiteres Auto rollt von der Fähre. Darin sitzen zwei Mütter mit ihren vier Kindern: Irina mit ihren Töchtern Katy (15) und Yana (12) und Veronika mit der fünfjährigen Evelina und ihrem Sohn im Teenageralter. Auch sie kommen aus Odessa. „Es gab viel Sirenenalarm“, erzählt Irina. „Das ging mehr als fünf Mal täglich los. Deshalb sind wir gegangen. Es ist sehr traurig, die Kinder sind gestresst, sie wollen nicht essen.“
Die beiden Mütter sind enge Freundinnen. „Wir hatten ein gutes Leben“, sagt Irina. „Jetzt ist es nur noch beängstigend.“ Die ganze Nacht sind sie durchgefahren, ohne zu schlafen, um den Fährhafen in Orlovka zu erreichen. In Tulcha, einer kleinen rumänischen Stadt in der Nähe der Grenze, wollen sich die beiden Familien jetzt etwas ausruhen. Dann soll die Reise weitergehen, vermutlich in die rumänische Hauptstadt Bukarest und von dort nach Bulgarien – ganz genau wissen sie es noch nicht.
„Die Ukraine ist unsere Heimat. Wir wollen zurück nach Hause, zu den Vätern unserer Kinder.“
Am schwersten sei es ihr gefallen, ihren Mann zurückzulassen, sagt Irina. Er sei geblieben, um die Stadt zu verteidigen. „Die Ukraine ist unsere Heimat“, so die zweifache Mutter. Während Irina spricht, klammert sich die zwölfjährige Yana an den Familienhund. Auch Veronikas Tochter Evelina hält sich fest – an einem Plüsch-Einhorn, das ihr bei der Ankunft in Isaccea von Helfer:innen durchs Autofenster gereicht wurde. „Wir wollen zurück nach Hause, zu den Vätern unserer Kinder.“
Kurz vor dem Grenzübergang lugt aus mehreren Schichten von Decken in den Armen einer Frau ein kleines Gesicht hervor. Daniil, gerade einmal zwei Monate alt, ist mit seiner Mutter Diana, Vater Alexander und den Schwestern Julia (5) und Anna (8) an die rumänische Grenze gekommen. Stundenlang war die Familie unterwegs – zu Fuß. Alle ihre Habseligkeiten mussten sie tragen.
Während sie in der Schlange zur Grenzkontrolle warten, wimmert Daniil leise und Diana wiegt ihren Sohn hin und her, küsst sein Gesicht, um ihn zu trösten. Seine Schwestern erhalten von den freiwilligen Helfer:innen etwas zum Spielen – für Julia gibt es einen weißen Plüschhasen – und ein paar Naschereien, während sie darauf warten, dass die Papiere der Familie geprüft werden.
Diana und Alexander haben eine Übernachtungsmöglichkeit in Rumänien. Für viele andere Familien, die an diesem bitterkalten Tag in Isaccea ankommen, gilt dies jedoch nicht. Wo Yarik, Alexay und ihre Mütter oder Irina und Veronika mit ihren Kindern die Nacht, die nächsten Tage, vermutlich sogar die nächsten Monate verbringen werden – das wissen sie nicht.
Der Artikel wurde mit Material vom Plan-Einsatzteam in Rumänien erstellt.