Mindestens 345 Millionen Menschen in 82 Ländern sind derzeit von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen oder bedroht – das heißt, sie haben kaum Zugang zu (Grund-)Nahrung und Lebensmitteln. 50 Millionen Menschen stehen laut World Food Programme am Rande es Hungertodes.
Es ist ein erschreckendes Bild, das diese Zahlen zeichnen. Was in den Statistiken jedoch verdeckt bleibt, ist, dass Menschen weltweit die Hungerkrise unterschiedlich erleben und auch unterschiedlich von ihr betroffen sind. Denn die Ursachen und Folgen von Ernährungsunsicherheit sind eng mit dem Geschlecht verknüpft. Länder, in denen der größte Hunger herrscht, sind auch die Länder mit der größten Ungleichheit zwischen Männern und Frauen. Zudem wird oft übersehen, welche Rolle das Geschlecht dabei spielt, wie Kinder und Jugendliche Ernährungsunsicherheit erleben.
Plan International fokussiert sich bei der humanitären Hilfe in der Hungerkrise auf acht der am stärksten betroffenen Länder: Äthiopien, Somalia, Kenia, Südsudan, Mali, Burkina Faso, Niger und Haiti. Auch wenn sich die Umstände in diesen Ländern unterscheiden, so haben sie bei genauer Betrachtung doch alle mit zahlreichen, oft miteinander verknüpften und sich gegenseitig verstärkenden Ursachen des Hungers zu kämpfen. In den meisten Fällen sehen sich diese Ländern mit einer Kombination aus gewaltsamen Konflikten, wirtschaftlichen Herausforderungen und den Auswirkungen des Klimawandels konfrontiert.
Konflikte führen zu einer Unterbrechung der Nahrungsmittelsysteme und -märkte. Sie führen zur Vertreibung von Zivilisten, was bedeutet, dass zum Beispiel landwirtschaftliche Flächen aufgegeben werden und Vermögenswerte verloren gehen. Länder mit andauernden Konflikten zählen zudem zu den schwierigsten Einsatzgebieten für humanitäre Organisationen.
Auch organisierte Gewalt trägt zu den schwerwiegenden Folgen der Hungerkrise bei – und stellt in Kombination mit Konflikten die Hauptursache für Ernährungsunsicherheit dar, zum Beispiel in der zentralen Sahelzone (Burkina Faso, Mali und Niger), Südsudan, Somalia und Haiti.
Deutlich werden auch die Folgen des Klimawandels und den damit einhergehenden Wetterextremen: Die Länder am Horn von Afrika (Somalia, Kenia und Äthiopien) werden von der längsten Dürre seit über 40 Jahren heimgesucht. Überschwemmungen in Südsudan, Dürre in Haiti sowie Trockenheit und Überschwemmungen in der zentralen Sahelzone haben Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion. Viele Länder sind angesichts dessen auf Importe angewiesen. Der Krieg in der Ukraine treibt jedoch die ohnehin schon hohen Lebensmittelpreise weiter nach oben – während viele Volkswirtschaften gleichzeitig noch immer unter einem durch die Corona-Pandemie ausgelösten Wirtschaftsabschwung leiden.
Für die acht am stärksten betroffenen Länder sind die hohen Lebensmittel- und Energiepreise die Hauptursache für die akute Ernährungsunsicherheit. Gleichzeitig setzt der Preisanstieg auch die humanitären Akteure unter Druck: Schon 2021 waren die Kosten für einen durchschnittlichen Lebensmittelkorb um mindestens 30 Prozent höher als fünf Jahre zuvor. Und die Teuerung hält an.
Im Jahr 2021 waren 126,3 Millionen mehr Frauen als Männer von Ernährungsunsicherheit betroffen. Eine Kluft, die sich immer weiter vergrößert. Doch die Statistiken geben nur einen eingeschränkten Einblick in die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten – denn sie beziehen sich auf Erwachsene und ältere Jugendliche. Wenn man Kinder miteinbezieht, könnte es laut Schätzungen weltweit sogar bis zu 150 Millionen mehr Mädchen und Frauen als Männer geben, die sich nicht ausreichend ernähren können. Laut UNICEF sind insgesamt über eine Milliarde Mädchen und Frauen von Unter- oder Mangelernährung, Untergewicht, fehlenden Mikronährstoffen betroffen.
Eine Analyse von Daten aus 109 Ländern hat gezeigt, dass die Menschen umso hungriger sind, je größer die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Land ist. So spielt diese Ungleichheit etwa eine Rolle dabei, wie Lebensmittel produziert und konsumiert werden. Sie prägt zudem die Strategien zur Bewältigung der Ernährungsunsicherheit und beeinflusst die vielfältigen Auswirkungen von Hunger auf den Schutz und das Wohlbefinden der Betroffenen.
Der Zugang zu und die Kontrolle über Ressourcen wie Land, Wasser, Vieh, Saatgut und Düngemittel trägt entscheidend zu einer gesicherten Ernährung bei, doch bleibt der Mehrheit der Frauen in den Ländern mit den niedrigsten Einkommen der Zugang zu Finanzmitteln, Landbesitz und Entscheidungsprozessen verwehrt. Weltweit sind nur 15 Prozent der Landbesitzer:innen Frauen, doch stellen Frauen rund 43 Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte.
Mädchen und Frauen sind auch größtenteils diejenigen, die Nahrung zubereiten und Lebensmittel einkaufen. Trotz dieser grundlegenden Rolle, die sie bei der Produktion und der Verarbeitung von Nahrung spielen, erhöhen die tief verwurzelten Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern die Anfälligkeit von Mädchen und Frauen für Hunger und Mangelernährung unverhältnismäßig stark. fehlt es an Lebensmitteln, sind es zuerst die Mädchen und Frauen, die aufs Essen verzichten oder weniger zu essen bekommen. Oft sind es die am wenigsten nahrhaften Lebensmittel, die für sie übrigbleiben. Das führt dazu, dass sie ihre Ernährungsbedürfnisse nicht decken können – mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen: Mangelernährung in der frühen Kindheit und Jugend kann das Wachstum der Kinder hemmen und hat erhebliche Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns.
Unterernährung stellt zudem eine besondere Bedrohung für (junge) Schwangere dar: Sie erhöht das Risiko von Fehlgeburten und Müttersterblichkeit sowie das Risiko von Totgeburten. Unterernährung bei Müttern trägt zu schätzungsweise 2,4 Millionen Todesfällen bei Neugeborenen pro Jahr bei.
Indirekte Auswirkungen von Ernährungsunsicherheit sind weniger sichtbar, können aber großen Schaden anrichten – und sind ebenfalls mit geschlechtsspezifischen Ungleichheiten verknüpft. So wirkt sich Hunger negativ auf die psychische Gesundheit und das psychosoziale Wohlbefinden aus. Unsichere Ernährung führt zu Stress, Ängsten und Spannungen in den Haushalten. Dies wiederum erhöht das Risiko von Gewalt in der Partnerschaft – die sich meist gegen Mädchen und Frauen richtet – sowie von Vernachlässigung und Gewalt gegen Kinder.
Mädchen und Frauen sind häufig dafür verantwortlich, Nahrung, Wasser und Feuerholz zu suchen, was sie einem erhöhten Risiko sexueller Gewalt aussetzt.
Wenn Nahrungsmittel knapp sind und sich die Armut und der fehlende Zugang zum Lebensunterhalt verschärfen, greifen Familien zunehmend auf negative und manchmal extreme Bewältigungsmechanismen zurück, um zu überleben. Für heranwachsende Mädchen bedeutet Ernährungsunsicherheit häufig, dass ihr Risiko einer Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung und damit auch das Risiko einer frühen Schwangerschaft steigt. Viele Familien nutzen die Kinderheirat, um die finanzielle Belastung zu verringern oder ein Familienmitglied weniger zu ernähren. In den von der Dürre betroffenen Gebieten Äthiopiens etwa sind die Fälle von Kinderheirat Berichten zufolge innerhalb eines Jahres um 51 Prozent gestiegen.
Fluchtbewegungen innerhalb des Landes oder Migration sind weitere gängige Strategien, um angesichts von Ernährungsunsicherheit und Armut das Einkommen und den Lebensunterhalt zu verbessern. Sie erhöhen ebenfalls das Risiko für Mädchen und Frauen, Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt zu werden und sind ein häufiger Grund dafür, dass Familien getrennt werden.
„Es sind die Binnenvertriebenen, die am meisten betroffen sind, insbesondere Frauen und Mädchen. Sie werden vergewaltigt, geschlagen und verletzt.“
In Anbetracht des zunehmenden Drucks auf die Existenzgrundlagen und der sich verschärfenden Armut sind die Kinder selbst oft gezwungen, in den Arbeitsmarkt einzutreten und in einigen Fällen in städtische Zentren abzuwandern. Kinderarbeit setzt Kinder lebensbedrohlichen Risikofaktoren und schädlichen Bedingungen aus. Einige der schlimmsten Formen der Kinderarbeit, wie Menschenhandel und kommerzielle sexuelle Ausbeutung, betreffen unverhältnismäßig stark Mädchen.
Der Mangel an Nahrungsmitteln und anderen Ressourcen erhöht das Risiko der sexuellen Ausbeutung im Zusammenhang mit dem Verkauf oder Tausch von Sex gegen Nahrung. Aus vielen Kontexten ist bekannt, dass Hunger in Kombination mit Machtungleichgewichten die Anfälligkeit von Mädchen und Frauen für sexuelle Ausbeutung erhöht.
Oft ist Bildung ein frühes Opfer in einer Ernährungskrise – und für heranwachsende Mädchen kann Hunger die Hindernisse, die sie ohnehin schon beim Zugang zu Bildung haben, noch verstärken. Ihre Bildung wird oft als erstes zurückgestellt, weil sie sich um jüngere Geschwister kümmern müssen, damit die Eltern arbeiten gehen oder Nahrung beschaffen können.
In Situationen, in denen Ernährungsunsicherheit mit Konflikten einhergeht – wie etwa in der Sahelzone – kommt es zu Angriffen auf Schulen. Der Verlust des Zugangs zu Bildung gefährdet nicht nur den unmittelbaren Schutz der Kinder, sondern untergräbt auch ihr langfristiges Wohlergehen und ihre Zukunftsaussichten.
Für diejenigen, die weiterhin die Schule besuchen, wirken sich Hunger und Unterernährung negativ auf die Lernfähigkeit aus. Dies wiederum beeinträchtigt den Erwerb wichtiger Lebenskompetenzen – darunter Fähigkeiten, die die individuelle Widerstandsfähigkeit in Krisenzeiten stärken.
Plan International arbeitet in acht der von der Krise am stärksten betroffenen Ländern: Burkina Faso, Äthiopien, Haiti, Kenia, Mali, Niger, Somalia und Südsudan. Dort haben wir Hilfsmaßnahmen wie die Verteilung von Nahrungsmitteln, Bargeld und Gutscheinen, Schulspeisungen, Untersuchungen auf Mangelernährung und Nahrungsergänzungsmittel ausgeweitet. Plan International integriert auch geschlechtsspezifische Kinderschutzmaßnahmen in die Programme und berücksichtigt diese. Zusätzlich zu den lebensrettenden Maßnahmen werden auch die Aktivitäten zum Schutz und zur Unterstützung der Lebensgrundlagen verstärkt.
Plan International setzt sich dafür ein, dass alle Hilfsmaßnahmen geschlechtsspezifisch ausgerichtet sind und, wo immer möglich, zu einem geschlechtsspezifischen Wandel beitragen. Denn erst, wenn soziale und geschlechtsspezifische Ungleichheiten gelöst sind, lässt sich der Hunger nachhaltig bekämpfen.