In den Slums von Lima
Armut hat viele Gesichter. Oft reicht die Vorstellungskraft nicht, sich auszumalen, unter welchen Bedingungen viele Kinder und ihre Familien in den Programmgebieten leben. Hannelore Scherer aus Bremen hat erlebt, wie wichtig die Hilfe vor Ort ist. Sie besuchte den kleinen Joel in Lima und berichtet:
Patenbesuch bei Joel
Heute ist es soweit: Ich werde den sechsjährigen Joel und seine Familie in Lima besuchen. Joel ist das Patenkind meiner Tochter Nina und ihres Kollegen-Teams aus der Physiotherapie der „Park-Klinik Manshagen“, in der Nähe von Hamburg. Ich selbst bin schon seit mehreren Wochen in Lima, wo ich die Zeit mit meiner Tochter Annika und ihrem Mann Jorge bei dessen Familie verbringe. Als ich meinem Schwiegersohn den Wohnort von Joel und seiner Familie nenne, ist er sehr besorgt. Auf keinen Fall will er mich dort alleine hinfahren lassen. Nach einigem Hin und Her wird beschlossen, dass er mich im Taxi bis zum Büro begleitet. Noch vor der vereinbarten Zeit erreichen wir das Büro von Plan.
Ohne Papier keine Einschulung
Estefani, eine Mitarbeiterin des Büros, erklärt uns an Hand von zwei Plakaten die Arbeit von Plan in Lima. Da ich selbst Spanisch spreche, brauchen wir keinen Übersetzer. Mit ihr und Rolando, einem weiteren Mitarbeiter, geht es dann in einem großen Wagen mit Plan-Emblem weiter. Wir brauchen vom Büro aus noch etwa 45 Minuten. Estefani erzählt mir währenddessen von ihrer Arbeit. Mit der Unterstützung von Plan sind hier mehrere Schulen errichtet worden. In einigen Dörfern aus der Umgebung haben Frauen gelernt, Handarbeiten herzustellen und sie zu verkaufen, um somit zum mageren Familieneinkommen beitragen können. Auch an der Gesundheitsvorsorge wird unermüdlich gearbeitet. Zum Programm von Plan gehören unter anderem eine ausgewogene und kindgerechte Ernährung, Hygiene-Schulungen, Beratungen zur Geburtenkontrolle und Impfungen. In einer Nachbargemeinde startet gerade eine Kampagne zur Geburtenregistrierung. Die meisten Kinder hier haben bisher keine Papiere, um sich ausweisen können. Zum Beispiel, um eingeschult werden zu können. Nach der Geburt ihrer Kinder haben die Mütter bisher wohl nur eine Bescheinigung bekommen: lebend geboren - aber das ist auch alles.
Wellblech, Staub und Schotter
Die Umgebung wird immer beklemmender. Es gibt eigentlich nur noch Schotterwege und Staub, Hütten aus Lehmziegeln mit Wellblechdächern, Schilfmatten, gelegentlich kleine Läden – und viele, viele Kinder. Wie Rolando in diesem Labyrinth die „Behausung“ von Joels Familie findet, ist mir schleierhaft. Natürlich existieren hier keine Straßenschilder, Hausnummern oder ähnliches. Es geht immer nur hoch, runter, rechts, links .... Schließlich hält unser Van vor einem Bau aus Lehmziegeln, aus dem auch gleich eine Traube von Menschen quillt. Mir ist etwas mulmig. Auf Anraten von Estefani lasse ich meine Mitbringsel erst einmal im Wagen. Wir kraxeln über einige Steine und betreten einen dunklen Raum, der nur durch ein schmales Fenster und die Deckenlampe beleuchtet wird. Estefani macht uns alle miteinander bekannt, zunächst mit Joels Mutter und seiner Großmutter. Zwei halbwüchsige Mädchen, die neugierig näher kommen, stellen sich – für mich allerdings erst später – als Schwestern der Mutter, also als Joels Tanten, heraus. Ein kleines Kind mit hochgesteckten Haaren wuselt um uns herum und Joel verschwindet hinter einem Vorhang, um sich ein Hemd anzuziehen.
Zwei Stühle für die Gäste
Mittlerweile werden zwei abgenutzte Stühle herbeigeschafft, die einzigen, die ich erblicken kann. Die Großmutter möchte, dass wir uns setzen und sagt zu uns: „¡Disculpe nuestra pobreza!“ – Entschuldigen Sie unsere Armut! Dann erscheint Joel wieder im Raum, ich gehe auf ihn zu und stelle mich vor. Er starrt mich schweigend und ernst an. Aber das Eis ist gebrochen – Mutter und Großmutter beginnen mit mir zu sprechen, und es entstehen überhaupt keine verlegenen Pausen. Obwohl ich mich nicht wirklich umsehen mag, werde ich die Einrichtung – wie wohl fast alles an diesem Tag – in genauer Erinnerung behalten: Hinter uns lehnt eine Matratze, dann gibt es einen großen Vorhang, davor einen Kühlschrank, und darauf ein laufender Fernseher mit flimmerndem Bild, der aber sofort abgestellt wird. Der Boden ist kahl, weitere Stühle gibt es nicht. Obwohl ich locker auf Spanisch plaudere, spüre ich eine unglaubliche Anspannung in mir. Dabei machen es mir alle leicht! Estefani mischt sich mit in die Unterhaltung und macht viele Fotos. Und auch Rolando, der in der offenen Tür lehnt, beteiligt sich rege am Gespräch.
Fotos gucken mit der ganzen Familie
Als ich die Hochzeitsfotos von Joels Paten, meiner Tochter Nina und ihrem Mann Dietmar, aus einem Umschlag ziehe, drängen sich alle um mich. Ich erkläre alles ganz genau. Joel ist mittlerweile aufgetaut und zeigt mir sein Schulheft. Besonders begeistert ist er übrigens von dem Foto der Hochzeitstorte mit dem Storch. Mir werden dann auch noch die Fotos der Familie gezeigt. Joels leiblicher Vater ist von der Familie getrennt, seine Mutter hat mit seinem Stiefvater einen kleinen Sohn. Schließlich bekommen wir aus nicht ganz heilen Bechern Inca Kola angeboten. Normalerweise mag ich dieses in Peu so gern konsumierte, gelbe, süße Getränk überhaupt nicht – aber selten erscheint mir etwas so lecker. Später gibt es noch so etwas wie Wassereis mit Geschmacksnote „Chicha morada“ (schwarzer Mais, der mit Ananasschalen und Zimt aufgekocht und mit Wasser verdünnt wird) – ein wunderbares Erfrischungsgetränk – einfach köstlich! Die Großmutter, die mit den beiden Mädchen in einer weiteren Hütte wohnt, erzählt mir von ihrer Arbeit: Sie steht jeden Morgen um 1.30 Uhr auf, bereitet verschiedene Dinge zum Frühstück zu und verlässt drei Stunden später das Haus, um mit dem Bus in die nördlichen Außenbezirke von Lima zu fahren. Dort gibt es so eine Art Stand, wo sie die vorbereiteten Dinge verkauft.
Herzlicher Abschied und große Erschöpfung
Mir fällt auf, dass Estefani und Rolando sich der Familie gegenüber absolut respektvoll verhalten –- niemals gönnerhaft oder belehrend! Schließlich signalisiert mir Estefani, dass wir jetzt zum Auto gehen können, um die „¡Regalitos!“ – Geschenke – zu holen. Joel ist sofort Feuer und Flamme. Das Feuerwehrauto für ihn schießt den Vogel ab. Langsam geht es ans Verabschieden. Ich bin froh, dass Estefani so viele Fotos gemacht hat, denn meine Kamera funktioniert leider nicht. Vor dem Haus umarmen wir uns alle, die Familie bedankt sich noch einmal herzlich, und dann geht die Fahrt zurück zum Plan-Büro. Erst jetzt merke ich, wie erschöpft ich bin: Noch niemals habe ich eine solche materielle Armut aus der Nähe gesehen – und zugleich soviel natürliche Würde der Menschen empfunden.
Jorge holt mich mit dem Taxi vom Büro ab. Nach 90 Minuten schrecklicher Fahrt durch einen unvorstellbaren Feierabendverkehr kommen wir wieder in La Molina bei Jorges Familie an. Ich werde sofort von allen umringt, erzähle kurz und stürze mich dann auf die Abendmahlzeit. Erst jetzt merke ich, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen habe.