Criadazgo wird der Brauch genannt, der zwar illegal ist, aber auch fest in der paraguayischen Gesellschaft verankert. Dabei schicken einkommensschwache Familien ihre Kinder in besserverdienende Haushalte, um dort zu arbeiten. In den meisten Fällen erhalten die betroffenen Kinder nicht die ihnen zustehende Fürsorge und Aufmerksamkeit, sondern werden zu langen Arbeitszeiten und zur Übernahme von Aufgaben gezwungen, die weit über ihre Fähigkeiten und ihr Alter hinausgehen.
„Ich ging in der Hoffnung auf ein besseres Leben fort, aber schon bald verwandelte sich alles in einen Albtraum.“
Dies ist auch bei Lili* der Fall: Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage ihrer Familie beschließt ihre Mutter, ihre Tochter aufzugeben – da ist Lili gerade zehn Jahre alt. Sie ist gezwungen, ihr Zuhause und ihre Geschwister zu verlassen und bei einer Tante in einer anderen Stadt zu leben. „Meine Mutter dachte, es sei das Beste für mich, da sie sich nicht um alle ihre Kinder kümmern konnte“, sagt die heute 17-Jährige. „Ich ging in der Hoffnung auf ein besseres Leben fort, aber schon bald verwandelte sich alles in einen Albtraum.“
Lili ist bereits einige Monate im Haus ihrer Tante, als ihr älterer Cousin anfängt, sie zu belästigen. Das junge Mädchen weiß nicht, wie es reagieren soll. Lili empfindet Scham – und Angst. Tatsächlich eskaliert die Situation einige Zeit später in sexuellem Missbrauch. Traumatisiert von dem, was geschehen ist, weiß Lili nicht, was sie tun soll. „Ich konnte niemandem trauen“, sagt sie heute. „Ich hatte Angst und schämte mich. Mein Cousin missbrauchte mich und ich fühlte mich hilflos.“ Es dauert zwei Monate, bis sie sich traut, es ihrer Tante zu erzählen. „Sie nahm es mir übel. Sie befragte ihren Sohn, aber er leugnete es nicht einmal. Er sagte nur, dass er in dieser Nacht betrunken war“, erinnert sich die junge Frau. „Danach drohte er mir erneut, mich umzubringen, weil ich es meiner Tante erzählt hatte.“
Bald darauf stellt Lili fest, dass sie schwanger ist. Sie wird zurück zu ihrer Mutter geschickt. Gemeinsam melden sie den Fall den Behörden und die Staatsanwaltschaft ergreift Maßnahmen, ihren Cousin ausfindig zu machen – doch erfolglos. Bis heute ist er auf freiem Fuß.
Sexueller Missbrauch an Mädchen ist in Paraguay weit verbreitet. Wenn ein junges Mädchen schwanger wird, ist dies in den meisten Fällen die Folge sexueller Gewalt. Das Land hat eine der höchsten Schwangerschaftsraten bei Kindern und Jugendlichen in Lateinamerika – laut Angabe des Gesundheitsministeriums werden jeden Tag mindestens zwei Mädchen im Alter zwischen zehn bis 14 Jahren schwanger.
Als sie im vierten Monat ist, erlässt die Staatsanwaltschaft eine Schutzanordnung: Lili soll in eine Unterkunft für Mädchen, die sexuelle Gewalt erfahren haben, untergebracht werden. Allerdings in der entfernten Hauptstadt Asunción. Da es in ihrer Gemeinde keine ähnlichen Schutzeinrichtungen gibt, hat sie keine andere Wahl – und wird erneut von ihrer Mutter getrennt. Zeitgleich findet ein Gerichtsverfahren zur Verfolgung ihres Vergewaltigers statt, das Lili als überwältigend beschreibt: „Es war sehr schwierig, diese ganze emotionale Last zu tragen“, sagt sie. Es ist ein langer Weg, doch die junge Frau findet die Kraft, sich ihrem Trauma zu stellen. Mithilfe von unterstützender Beratung beginnt auch ihr Genesungsprozess.
„Als meine Tochter älter wurde, habe ich meine Angst verloren. Sie gab mir Kraft und zeigte mir neue Wege. Ich habe drei Jahre lang eine Therapie gemacht, die mir geholfen hat, wieder zu lernen, anderen zu vertrauen. Es war ein schwieriger Prozess, aber ich habe gelernt, meine Tochter und mich selbst zu lieben“, sagt Lili.
Als sie gesund genug ist, um in ihre Heimatgemeinde zurückzukehren, schließt sich Lili dort einigen Initiativen von Plan International an und nimmt aktiv an Elternkursen teil. Ihre Geschichte motiviert sie, ihre Meinung zu sagen und zu verhindern, dass andere Mädchen ähnliche Erfahrungen machen. Die Projekte von Plan International zielen darauf ab, die Lebensbedingungen von Mädchen und Jugendlichen in ländlichen Gebieten, wo sie besonders gefährdet sind, zu verbessern. Durch die Verbesserung des Zugangs zu umfassender Sexualerziehung sollen die Zahlen der Teenagerschwangerschaften und die Fälle von geschlechtsspezifischer Gewalt verringert werden.
Die heute 17-jährige Lili hat ihre Schulbildung wieder aufgenommen und hofft, Lehrerin zu werden, um andere Mädchen und junge Frauen zu schützen und zu stärken. Sie nutzt ihre Stimme, um sich für die Rechte von Mädchen einzusetzen: „Ich möchte Mädchen wie meine Tochter lehren, ihre Stimme zu erheben, damit sie nie das durchmachen müssen, was ich durchgemacht habe.“
*Name zum Schutz der Identität geändert
Lilis Geschichte wurde mit Material aus dem Plan-Büro in Paraguay erstellt.