Sie gilt als ländlich und besonders abgelegen: die Provinz Stung Treng im Nordosten Kambodschas. Abseits wichtiger Fernstraßen leben dort viele Menschen einzig von den Erträgen, die ihnen der Anbau von Feldfrüchten bringt. Phally ist das jüngste Kind in einer Familie, die ihren Lebensunterhalt vom Maniok- und Erbsenanbau bestreitet. Und wäre es nach ihren Eltern gegangen, hätte die heute 18-Jährige längst eine eigene Familie gegründet, anstatt ihren Träumen von einem Oberstufenabschluss und einer weitergehenden Ausbildung nachzuhängen.
Als Phally 17 Jahre alt ist, setzen ihre Mutter und ihr Vater das Mädchen unter Druck. Sie soll heiraten und damit das elterliche Haus verlassen. „Ich war schockiert“, äußert sich Phally niedergeschlagen. „Ich habe versucht, meinen Eltern zu erklären, dass sich bei einer frühen Ehe zwar anfangs jemand um mich kümmert, die Zukunft aber ungewiss ist.“ In Stung Treng ist die Kinderehe verbreitet: 25 Prozent der Mädchen werden dort vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet.
„Bei einer frühen Ehe ist die Zukunft ungewiss.“
„Ich bin das einzige Kind in meiner Familie, das die Oberschule abgeschlossen hat“, sagt Phally stolz. „Meine vier älteren Geschwister haben alle die Schule abgebrochen, um zu heiraten.“ Ein Schicksal, dem die seinerzeit 17-Jährige unbedingt entkommen will.
In der Hoffnung, nach dem Schulabschluss ein Studium an einer Universität aufnehmen zu können, arbeitet Phally als Freiwillige bei einer lokalen Hilfsorganisation. „Immer, wenn ich junge Leute an der örtlichen Universität sah, war ich traurig und wollte mich ihnen anschließen – aber ich musste arbeiten, um dafür zunächst Geld zu sparen“, erinnert sie sich.
Doch da sich ihr Arbeitgeber für ein Ende von Früh- und Zwangsehen in Kambodscha einsetzt, sind ihr die diesbezüglichen Gefahren bald bewusst. Mit diesem Wissen und dem festen Willen, ihr Studium fortzusetzen, gelingt es Phally schließlich, ihre Eltern umzustimmen. Sie möchte vor einer Heirat erst die finanzielle Unabhängigkeit erlangen – und vor allem selbst die Entscheidung treffen, wann und wen sie heiratet.
Phally möchte selbst entscheiden, wann und wen sie heiratet.
In dieser Situation erkennt Phally, dass sie irgendeine besondere Fertigkeit braucht, eine Möglichkeit, die ihr einen geregelten Arbeitsplatz mit festem Einkommen und damit Unabhängigkeit verschafft. Und als sie erfährt, dass in einem Ausbildungszentrum in ihrer Provinz berufsbildende Kurse angeboten werden, wird die 18-Jährige hellhörig. Das von Plan International unterstützte Projekt vermittelt jungen Frauen berufliche Fertigkeiten. Ziel ist es zudem, ihre frühe Heirat zu verhindern. Das passt auf Phallys Situation in besonderer Weise und außerdem interessiert sie sich für einen der angebotenen Kurse: Sie möchte Elektroinstallateurin werden – und kommt ins Schwärmen.
Doch zunächst muss sie die Erlaubnis ihrer Eltern einholen. „Meine Mutter war anfangs nicht einverstanden, da sie sich Sorgen über meine Sicherheit machte, etwa wegen eines elektrischen Schlags. Sie fragte mich, warum ich nicht einen traditionelleren ,Mädchenberuf‘ gewählt hätte“, erinnert sich Phally lachend. „Ich sagte ihr, dass Berufe nicht nach Geschlechtern getrennt werden sollten.“
Es gelingt der jungen Frau, die Befürchtungen ihrer Mutter ausräumen und schreibt sich Anfang 2024 für den ersehnten Elektrotechnikkurs ein. Ein wichtiger Schritt in ihrem Leben, den sie bis heute nicht bereut: „Ich bin sehr glücklich mit meiner Entscheidung.“
Bald geht es los, und in Phallys Klasse kommen auf 18 Schüler vier Mädchen. Die jungen Frauen durchbrechen die gängigen Geschlechterstereotypen. Sie und die Jungen in dem Kurs unterstützen sich bei der Berufsbildung gegenseitig. „Morgens lernten wir die Theorie und nachmittags probierten wir die praktische Anwendung aus“, sagt die angehende Elektroinstallateurin in dem Projekt, das finanziell vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützt wird.
Phally hat den Kurs kaum abgeschlossen, da werden ihr bereits zwei Jobs angeboten.
Nach vier Monaten Studium und Praxis schließt Phally den Kurs ab. Sie hat das Ausbildungszentrum kaum verlassen, da werden ihr bereits zwei Jobs angeboten: als Verwaltungsangestellte und Assistentin des Lehrers für Elektrotechnik. Auf das letztere Angebot geht sie sofort ein, bleibt sie damit doch in dem Bereich, der ihr besonders am Herzen liegt: die Elektroinstallation.
Zusätzlich zu ihrer Arbeit im Ausbildungszentrum unterrichtet Phally ehrenamtlich Kinder außerhalb der Schule. Es sind Mädchen und Jungen, deren Eltern für die Arbeit fortgegangen sind und deshalb kaum Förderung auf ihrem Bildungsweg erfahren. In zwei Schichten unterrichtet Phally abends bis zu 60 Kinder; und sie besorgt von ihrem Geld Hefte und Bücher für die Kleinen. „Einige Eltern unterstützen mich mit Benzin für mein Moped; wenn nicht, ist das auch in Ordnung“, sagt Phally.
Mit Blick auf die Zukunft hofft Phally, einen eigenen kleinen Laden zu eröffnen, in dem sie Elektroartikel verkauft, und sie möchte andere Mädchen dazu ermutigen, im Bereich Elektronik und Elektrotechnik tätig zu werden. „In meinem Dorf mangelt es an Strom, weil es so abgelegen ist. Obwohl einige Leute Solaranlagen angeschafft haben, können sich viele Familien diese nicht leisten, sodass die Kinder abends bei Kerzenlicht lernen müssen. Das möchte ich ändern.“
Marc Tornow hat Südostasien-Wissenschaften studiert, Kambodscha mehrfach bereist und diese Geschichte mit Material aus dem örtlichen Plan-Büro aufgeschrieben.