Seit der Eskalation des Konflikts im Februar 2022 befindet sich der größte Teil der ukrainischen Region Cherson unter russischer Kontrolle. Der größte Teil der Infrastruktur in der Region wurde zerstört, darunter Kommunikation, Strom, Wasser, Wärme und mehrere Brücken, was viele Menschen zur Flucht zwang. So auch die 36-jährige Irina, ehemalige Sozialarbeiterin und Mutter von fünf Kindern. Irina kümmerte sich früher um benachteiligte Familien, ältere Menschen und Kinder in ihrer Stadt. 2016 starb ihr Mann, 2018 ging sie aufgrund einer Behinderung in den Ruhestand.
„Mein ältestes Kind ist 17, mein jüngerer Sohn Alexander ist 15. Liza ist 13 und besucht eine Musikschule. Iwan ist in der sechsten Klasse und Natalka ist in der vierten. Liza, Ivan und Natalka besuchen die Schule im Dorf.
Wir wohnen seit August letzten Jahres in diesem Haus. Es entspricht nicht einmal annähernd den Bedingungen, in denen meine Kinder und ich gelebt haben, bevor wir Cherson verlassen mussten. Ich hatte ein modernes Haus mit separaten Zimmern für die Kinder, einer neuen Küche und einem Badezimmer gekauft. Zwei Wochen vor der Eskalation des Konflikts am 24. Februar hatte ich gerade die Hypothek abbezahlt und die besten Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich meine fünf Kinder wohlfühlen, doch dann musste ich das Haus verlassen, weil ich um mein Leben und das meiner Kinder fürchtete. Das Haus befand sich in einem von Russland kontrollierten Gebiet und ich weiß, dass es bis auf die Grundmauern zerstört worden ist, aber ich kann nicht sehen, wie es jetzt aussieht.
„Ein Teil am linken Flussufer ist jetzt unter ukrainischer Kontrolle, aber das rechte Ufer, wo mein Haus stand, ist immer noch unter russischer Kontrolle.“
Ich vermisse mein Zuhause, aber ich werde zumindest in den nächsten zwei Jahren nicht dorthin zurückkehren können, so gerne ich es auch wieder aufbauen würde. In den nächsten zwei Jahren werden die Behörden daran arbeiten, alle Minen aus diesem Gebiet zu entfernen, und ich werde nicht dorthin können, selbst wenn ich die Mittel hätte, es wieder aufzubauen. Aber ich hoffe sehr, dass ich und die Kinder bald nach Hause zurückkehren können.
Das Haus, in dem wir wohnen, ist ziemlich alt und wird mit Holz beheizt, das es bei unserem Einzug noch nicht gab. Im Haus gibt es kein Badezimmer. Ich musste 12.000 Hrywnja (303 €) für das Holz bezahlen, um meine Familie an den kalten Wintertagen warm zu halten. Meine beiden Söhne, die zur Schule ins Dorf fahren, haben keinen Schulbus, sodass die Transportkosten für sie (etwa 170 € im Monat) mein ohnehin bescheidenes Einkommen belasten.
Um meine Kinder beim Online-Lernen zu unterstützen, habe ich zwei gebrauchte Laptops gekauft, aber die reichen nicht für fünf Kinder, die unterschiedliche Stundenpläne und Lernbedürfnisse haben.
Das Haus, in dem wir wohnen, hat zwar einen Internetanschluss, aber sobald der Strom aus ist, funktioniert nichts mehr. Im Moment haben wir keinen Strom, weil eines der Stromkabel im Dorf durch das Eis beschädigt wurde. Wenn es keinen Strom gibt und die Kinder nicht zur Schule gehen können, richten die Lehrer per WhatsApp oder Viber Gruppen ein, in denen wir alle Schüler:innen der Klasse zusammenfassen und dann separate Gruppen für die Eltern einrichten, um verschiedene Aufgaben zu kommunizieren, an denen die Schüler:innen beim Online-Lernen arbeiten müssen.
„Mir war klar, dass ich auf eigene Kosten gehen musste, also sammelte ich mein Hab und Gut und meine Kinder ein und ging.“
Ich habe seit über 48 Stunden keinen Strom mehr und um ein Internetsignal zu bekommen, muss ich normalerweise aus dem Haus gehen und weitere 100 Meter laufen, damit mein Telefon alle Updates und Nachrichten empfängt. Mein einziger Wunsch ist es, bis zum Frühjahr bessere Bedingungen für meine Familie zu finden. Ich bin dankbar für das, was ich habe, und ich verstehe, dass so viele andere Menschen unter noch schlechteren Bedingungen leben als ich.
Als es an der Zeit war zu gehen, war unser Dorf im Gebiet Cherson bereits unter russischer Kontrolle und es gab fast keine Hilfe mehr von Freiwilligen. Mir war klar, dass ich auf eigene Kosten gehen musste, also sammelte ich mein Hab und Gut und meine Kinder ein und ging.
Wir fuhren mit dem Auto, und die Gesamtkosten beliefen sich auf 60 000 Hrywnja (1520 €) für alle Ausgaben wie Benzin für das Auto und Lebensmittel für uns alle sechs. Normalerweise dauert es etwa sechs Stunden, um Saporischschja von meiner Heimatstadt aus zu erreichen, aber dieses Mal dauerte es 14 Tage.
Als wir am 13. Juli in Wassiljewka ankamen, wo sich der letzte Kontrollpunkt befand, waren wir Nummer 1196 in der Warteschlange. Es kam oft vor, dass sich die Schlange zwei Tage lang nicht bewegte, und jeder musste jeden Tag bis 19 Uhr die Autobahn verlassen, um nicht Gefahr zu laufen, getötet zu werden. Am nächsten Morgen bildete sich die Schlange gegen 6 Uhr erneut. Mit meinen Kindern mussten wir verschiedene Dörfer in der Umgebung besuchen, um einen Platz zum Übernachten zu finden.
Insgesamt passierten wir 56 Kontrollpunkte, an denen russische Regierungstruppen unsere Sachen auf den Kopf stellten, um zu prüfen, ob wir irgendetwas "Provokantes" bei uns hatten. Wir liefen Gefahr, festgehalten oder zurückgeschickt zu werden, falls den Kontrollbeamt:innen etwas an uns nicht gefiel oder sie etwas fanden.
An den Kontrollpunkten wurde ich oft nach meinem Mann gefragt und was er macht, sodass ich ihnen sagen musste, dass mein Mann gestorben ist. Meine Söhne sind ziemlich groß, so dass ich oft gefragt wurde, warum sie noch nicht in der Armee sind, woraufhin ich die Ausweise meiner Söhne zeigte, die bewiesen, dass sie noch minderjährig sind. Die Leute in der Warteschlange sagten, dass manchmal Kinder entführt würden, und ich hatte Angst, dass sie meine Kinder mitnehmen würden. In diesen 14 Tagen hatte ich das Gefühl, durch den ganzen Stress um 14 Jahre gealtert zu sein.
Als wir endlich den russischen Kontrollpunkt passierten und uns auf den ukrainischen zubewegten, gerieten unsere Autos unter Beschuss. Das waren die russischen Regierungstruppen, die sich verabschiedeten. Glücklicherweise wurde nur unser Fahrzeug beschädigt, aber niemand wurde verwundet. Die Menschen, die uns folgten, hatten jedoch nicht so viel Glück, einige wurden verwundet und einige getötet.“
Die Geschichte von Irina basiert auf Interviews mit ihr, die von Plan International in der Ukraine durchgeführt wurden.